Der Trumpf des Ersatzplatzes: Die Junge Kammerphilharmonie Sachsen spielt im Gewandhaus Mahlers Zweite
Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 2 c-Moll findet sich ob ihrer voluminösen Besetzung eher selten in den regulären Orchesterspielplänen, wird aber gern für spezielle chorsinfonische Gelegenheiten herangezogen, etwa bei Festlichkeiten wie anno 2007 zur Wiedereinweihung des sanierten Konzertsaals im Geraer Theater. Im Gewandhaus erklungen ist sie naturgemäß auch bei den beiden Mahler-Festivals anno 2011 und anno 2023, und das Finale des fünften Satzes in der 2011er Darbietung des Gewandhausorchesters unter Riccardo Chailly gehört immer noch zu den eindringlichsten Momenten, die der Rezensent im Konzertsaal je erleben durfte – und das, obwohl er an einem ungewöhnlichen Platz saß, nämlich auf der rechten Orchesterempore in relativer Nähe zur Orgelempore, auf der sich die Chorsänger befanden. Während der Pandemie waren derartige Konzerte natürlich nicht möglich, und so führten Gregor Meyer und Walter Zoller anno 2021 in Rötha Bruno Walters Fassung für zwei Klaviere auf, ergänzt um einen zehnköpfigen Chor, die beiden Gesangssolistinnen und einen Blechbläser, der das „Fernorchester“ spielte. Diese Fassung ermöglichte überraschende akustische Eindrücke, und man nahm Linien wahr, die sonst im großen Klangrausch gern untergehen, wozu speziell im letzten Satz auch der Gesang der Altsolistin gehört. Nun also setzt die Junge Kammerphilharmonie Sachsen diese Sinfonie auf den Plan, der ein Konzert in Leipzig und eins in Berlin vorsieht. Der Ensemblename läßt dabei nochmal speziell Spannung aufkommen: Sollte hier etwa tatsächlich eine Kammerorchesterfassung aufgeführt werden, die einige Tugenden der Klavierfassung mit einigen der Originalfassung verbindet? Die Antwort auf diese Frage lautet Nein. Die 2019 für eine Aufführung des Brahms-Requiems gegründete Junge Kammerphilharmonie Sachsen, die sich überwiegend aus hiesigen Musikstudenten rekrutiert, ist kein Kammerensemble im engeren Sinn, sondern tritt an diesem Abend tatsächlich in voller Mahlerscher Originalbesetzung an, Instrumentalisten und Sänger bei einer Addition ungefähr die Zahl 250 ergeben lassend. Also nix mit der genannten Tugendkombination – oder vielleicht doch? Der ausverkaufte Große Saal des Gewandhauses erlebt zunächst ein „Vorprogramm“, nämlich „Christe qui lux es et dies“ von Giovanni Pierluigi da Palestrina, und zwar a cappella vom siebzehnköpfigen Männerkammerchor ffortissibros, dessen Mitglieder in fast hälftiger Aufteilung rechts bzw. links oben vor den Emporeneingängen stehen, dirigiert von Benedikt Kantert, der sich unten am Pult befindet. Die beiden Tenöre Theo Rhode und Enno Schreiber fungieren dabei jeweils als Vorsänger, auf deren Passagen die anderen Sänger chorisch antworten. Kantert schlägt ruhige große Bögen, und neben der hohen Klangqualität selbst überzeugt auch der Fakt, wie es diese acht bzw. neun Stimmen schaffen, den riesigen Raum des Großen Gewandhaussaals akustisch zu füllen – zumindest ist das der Klangeindruck vom Platz des Rezensenten aus: Weil mit dessen Ticketreservierung etwas schiefgegangen war, sitzt er auf einem „Ersatzplatz“, und zwar abermals auf der rechten Orchesterempore, diesmal aber ungefähr in deren Mitte und ein paar Reihen weiter oben, also ein Stück vom Mahler-Chor entfernt, aber immer noch so, dass er sich seitlich oberhalb des Orchesters befindet und auch die Links-Rechts-Folge der beiden ffortissibros-Hälften hier vertauscht ist, was allerdings nicht stört. Nach dem Ende des Palestrina-Stückes gibt es keine Pause – noch ehe jemand auf die Idee kommen könnte, in Applaus auszubrechen, gibt Kantert schon den Einsatz für die Mahler-Sinfonie. Wir haben also eine ähnliche Konstellation wie bei einer Aufführung aus dem Jahr 2017 durch das BundesSchulMusikOrchester in der Leipziger Musikhochschule vor uns, wo als „Vorprogramm“ Johannes Brahms’ Fünf Gesänge sowie zwei von Gustav Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen erklungen waren und es von letzterem auch gleich attacca in die Sinfonie ging. Kantert hält das Tempo in der Folge dieses ersten Satzes sehr übersichtlich und läßt in die einleitenden Streicher einiges an Schärfe legen, übertreibt es mit dieser aber nicht. Spannend wird die Lage dann in den Tuttipassagen, denn die muten lange Zeit eher fragmentiert an, so als ob das Orchester gleichzeitig, aber nicht zusammen spielt. Die Gretchenfrage besteht nun darin, ob das am Sitzplatz des Rezensenten entgegen der oder rechtwinklig zur Abstrahlrichtung fast aller Instrumente (außer der Tuba) liegt oder ob sich das Orchester wirklich noch finden muß. Der Fortgang des Satzes läßt einen Mix aus beiden Gründen vermuten. Zum einen entwickeln die Instrumentalisten besonders in den vielen kammermusikalisch angehauchten Passagen einen immer stärkeren Draht zueinander, beginnend mit der Harfendüsternis nach dem ersten großen Tutti – zum anderen aber gewöhnt sich auch das Ohr des Rezensenten daran, aus welcher Richtung es in welchen Momenten welche Klänge zu erwarten (und im Hirn zusammenzusetzen) hat. Das Faszinosum in diesem Satz geht aber nach wie vor von den Einzelleistungen aus, und auch wenn da naturgemäß hier und da mal was wackelt, holen etwa die Hörner mit einem betörenden Tonfall die ins Feuer gefallenen Kastanien gleich wieder heraus, zumal Kantert auch eine ziemlich spannende Hinführung in Richtung Satzschluß hinbekommt. Den von unkundigen Teil des Publikums gespendeten Applaus wehrt der Dirigent ab, nimmt die Pause vor dem zweiten Satz aber trotzdem ein gutes Stück kürzer als die von Mahler gewünschten fünf Minuten – bei voller Länge wäre der unkundige Teil wohl auch unruhig geworden und hätte die Atmosphäre torpediert, so dass die Entscheidung also eine kluge war. (2017 hatte man an besagter Stelle gleich eine volle Konzertpause eingelegt, wobei das „Vorprogramm“ damals aber auch deutlich länger war.) Besagten zweiten Satz beläßt Kantert gleichfalls in überschaubarem Tempo, nimmt ihn ziemlich lieblich und zart, betont aber die böhmisch-tänzerischen Anklänge relativ stark – ein Hang, der schon im ersten Satz latent zu spüren war. Oft bewegt sich die Musik tastend und vorsichtig, auch die kleinen Ausbrüche bleiben im Rahmen und entfalten doch ihre intendierte dynamische Wirkung. Satz 3 hängt fast attacca an, aber die Pause ist doch lang genug, um einen Teil des Publikums mit dem einleitenden Paukenschlag markant zu erschrecken. Der Grundstimmung dieses Satzes an diesem Abend merkt man deutlich an, dass da junge Leute auf der Bühne sitzen, die Hörerfahrung in vielen modernen Genres haben und für die ein lockerer Groove daher viel leichter umzusetzen ist als für manchen Orchestermusiker von altem Schrot und Korn. Die Tutti atmen freilich überraschend wenig Choralgeist, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl wird stärker, und Kantert nimmt die Anweisung „In ruhig fließender Bewegung“ einerseits ernst, setzt aber auch gekonnte Kontrapunkte mit einigen Breaks im Flow. Der „Urlicht“-Satz läßt den Hörer einen etwas weniger trockenen Blechchoral wünschen – aber hier ist es Altistin Marie Henriette Reinhold, die die Kastanien aus dem Feuer holt. Beide Solosängerinnen stehen hinten auf der Orgelempore inmitten des Chores, und das ist am Sitzplatz des Rezensenten ein Trumpf, denn hier hört man beide fast durchgängig ausgezeichnet – wie das in anderen Bereichen des Saales ist, kann der Rezensent natürlich nicht beurteilen. Die richtig schöne Stimme der Altistin verzahnt sich hier jedenfalls gut mit der darunterliegenden Kammermusik, und Konzertmeisterin Adele Laurich setzt in puncto Emotionenfaktor noch eins drauf. Ganz so wild herausfahrend gerät der Auftakt des fünften Satzes dann nicht, aber für einen geschickten Spannungsaufbau hin zum ersten Fernorchester-Einsatz reicht’s allemal. Es folgt gekonnte kleinteilige Arbeit, und spätestens hier, aber auch schon phasenweise während der ersten vier Sätze staunt man die sprichwörtlichen Bauklötze, dass es eben auch in der vollen spätromantischen Orchesterbesetzung die Möglichkeit gibt, interessante Details neu zu entdecken, die man nie zuvor wahrgenommen hatte. Ob sich hier der Sitzplatz des Rezensenten zum Vorteil auswächst und weiter hinten dann doch eher Mischklang ankommt, kann natürlich nicht näher ausgeführt werden. Jedenfalls genügt der große Tiefblechchoral an diesem Abend auch verwöhnten Ansprüchen, und die Tutti wachsen weiter zusammen und werden massiver, wie der lehrbuchreife große zentrale Ausbruch zeigt. Aber auch die Gegenseite überzeugt: Die extrem sinistre Stimmung unter dem letzten Fernorchesterpart kann man förmlich mit Händen greifen, nicht zuletzt, da man den unheimlichen pp-Teppich aus der großen Trommel sehr eindringlich empfindet. Der Chor, zu dem sich mittlerweile auch die 17 ffortissibros gesellt haben, singt auswendig und bleibt interessanterweise zunächst sitzen, was vermutlich auch hilft, Sopranistin Johanna Ihrig nicht zu überdecken, so dass auch sie sich spätestens ab ihrer „O glaube“-Strophe angemessen Gehör verschaffen kann und eine ebenso schöne wie normale Stimme an den Tag legt; auch Marie Henriette Reinhold macht hier wieder viel richtig und ist auch im Duett mit ihrer Sopran-Kollegin gegen einen schätzungsweise im Mezzoforte agierenden Chor noch deutlich herauszuhören – ein Unikum in einer solchen Besetzung. Das Satzfinale fällt nicht ganz so eindringlich aus wie anno 2011, aber für einen emotionalen Ausnahmezustand reicht’s allemal, zumal Benedikt Kantert als souveräner Gestalter der Klangmassen überzeugt und auch der Chor eine starke Leistung bringt. Der Applaus bricht fast direkt nach dem Schlußton aus, die ersten Bravi lassen nicht lange auf sich warten, und der Saal jubelt sehr ausdauernd – zu Recht: Kantert und seine Junge Kammerphilharmonie Sachsen können sich eine hochinteressante Aufführung gutschreiben lassen, und der Rezensent ist an seinem ungewohnten Platz um so manche bisher ungehörte Eindrücke reicher geworden, so dass sich der Ersatzplatz als Trumpf entpuppt hat. Roland Ludwig |
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