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Info
Zeit: 01.07.2021
Ort: Rötha, Marienkirche
Internet:
http://www.gregor-meyer.com
http://www.walterzollerpiano.com
Eine riesig besetzte Sinfonie wie Mahlers Zweite in pandemischen Zeiten? Da muß etwas anderes dahinterstecken, und so ist es dann auch: Gregor Meyer und Walter Zoller spielen an diesem Abend eine Fassung für zwei Klaviere, erstellt von Bruno Walter, einem der eifrigsten Propagandisten des Mahlerschen Werkes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, bevor die Nationalsozialisten all dem einen Strich durch die Rechnung machten.
Aber kann so etwas funktionieren, eine Sinfonie als Klavierfassung? Gewiß, für heutige Ohren ist es ungewohnt, jedenfalls für Nichtmusiker – Musiker hingegen sind Klavierproben bei der Erarbeitung von Werken gewöhnt, und blickt man zurück in eine Zeit, wo Konzerte noch Seltenheitswert hatten und zudem nur Betuchteren zugänglich waren, wo an Worte wie Radio oder Internet noch nicht zu denken war, dann stellt sich das Bild nochmal ganz anders dar: Das Spielen von Sinfonien oder anderen größer besetzten Orchesterwerken am Klavier stellte die einzige praktische Möglichkeit der akustischen Popularisierung eines solchen Werkes dar (also für Menschen, die allein aus dem Notenbild kein Klangbild abzuleiten imstande waren), und sogar Dmitri Schostakowitsch hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch auf diese Methode zurückgegriffen, wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Und selbst wenn man auf dem Klavier naturgemäß nicht alle Nuancen des Orchesterwerkes wiedergeben kann, so bekommt der Hörer doch eine grundsätzliche Ahnung davon, was sich der Komponist hier gedacht hat, und wenn er auch die Orchesterfassung kennt, so macht das Hören und Vergleichen doppelt Freude. Zudem lohnt ein tieferer Blick in die Geschichte: Mahler selbst hat beispielsweise in jungen Jahren eine Klavierfassung von Bruckners Dritter erstellt, und die an diesem Abend in Rötha zu hörende Walter-Fassung ist keineswegs die einzige ihrer Art von Mahlers Zweiter; es existiert beispielsweise auch noch eine von Hermann Behn, und veröffentlicht wurden beide in renommierten Leipziger Musikverlagen – man konnte vor reichlich hundert Jahren mit so etwas auch noch Geld verdienen.
Also hinein ins Geschehen! Ein Blüthner-Flügel steht sowieso noch vom am Vorabend zu Ende gegangenen Röthaer Musiksommer im Altarraum der Marienkirche, also wird ein zweiter dazugestellt. Die beiden Gesangssolistinnen agieren ebenfalls vom Altarraum aus, der zehnköpfige Chor hingegen steht oben auf der zweiten Empore. Im Kirchenraum selbst herrscht wegen der Abstandsregeln begrenzte Platzkapazität, und letztlich sind sowohl im Parterre als auch auf der ersten Empore fast alle zur Verfügung stehenden Plätze besetzt. Pfarrerin und Hausherrin Sabine Wagner spricht einige einleitende Worte, die zumindest am Sitzplatz des Rezensenten akustisch nur schwer verständlich sind, was gewisse Skepsis hervorruft, wie es mit der Musik bestellt sein würde, da der Rezensent bisher noch keine musikalische Darbietung in dieser Kirche erlebt hat – aber hier kann schnell Entwarnung gegeben werden: Offenbar braucht das Ohr nur eine gewisse Eingewöhnungszeit, um sich auf die Raumakustik einzustellen. Meyer und Zoller nehmen das Werk im Ganzen sehr zügig, aber es entsteht trotzdem kein Klangmulm, wenngleich natürlich nicht jede Linie in kristallener Klarheit wahrzunehmen ist – das ist sie in der Orchesterfassung schließlich auch nicht, und auch da entsteht im schnellen Gesäge bisweilen eher eine einheitliche Fläche als ein strukturiertes Gewühl. Zoller spielt darüber hinaus auch noch sehr gestenlastig, während sich Meyer diesbezüglich zurückhält – und im Zusammenspiel lassen sich die beiden sowieso kein X für ein U vormachen. Sie wenden übrigens auch selbst, was bisweilen durchaus Geschicklichkeit erfordert. Das erwähnte zügige Tempo ermöglicht auch einige überraschende Wirkungen, wenn etwa in der Hauptthema-Wiederkehr im ersten Satz ein fast galoppierender Groove entsteht. Die beiden überhasten aber auch nichts: Wenn Mahler Rücknahme fordert, machen Meyer und Zoller das auch und legen etwa ins Seitenthema dieses Satzes so viel Lieblichkeit, wie man das mit einem Flügel eben hinbekommt. Die hochromantischen Klangwirkungen dieses ein paralleles Eigenleben als Konzertstück namens „Totenfeier“ führenden ersten Satzes sind jedenfalls auch in dieser Fassung prächtig wahrnehmbar, Spannungserzeugung ist gleichfalls kein Fremdwort, und auch die bruchlastige Dynamik im Finale dieses Satzes macht dem Original durchaus keine Schande. Für das zentrale Problem dieses Abends können die beiden Pianisten allerdings nichts: Die Marienkirche liegt auf einem Friedhof mit altem Baumbestand, und dort geraten schon zu Beginn des ersten Satzes zwei Amselhähne in Streit, was sich schrittweise intensiviert und in einigen Generalpausen zu einem seltsamen Eindruck führt.
Die fünfminütige Pause, die Mahler zwischen dem ersten und dem zweiten Satz wünschte, streichen Meyer und Zoller. Satz 2 wird über weite Strecken zu hübscher romantischer Klaviermusik, entbehrt allerdings auch einiger Abgründe nicht. Satz 3 wiederum eröffnet subtile Möglichkeiten für einen schwingenden, fast walzerartigen Gestus, dem sich die Pianisten mit Hingabe und gekonnter Feinabstimmung widmen. Neben viel Dynamikvariabilität besticht auch die Kunst, kleine Verharrungen flüssig einzubauen, wenngleich die Transparenz mancher Einzeltöne etwas schwierig bleibt. In der Klavierfassung liegt der Satz ausdrucksseitig jedenfalls näher am ersten als in der Orchesterfassung, stellt man überrascht fest.
Im vierten Satz warten zwei weitere Überraschungen. Die eine ist externer Natur – die Amseln haben ihren Streit beendet, und draußen herrscht nunmehr Ruhe. Die andere hat mit der Fassung zu tun: Ja, Mahler hat einen Alt besetzt, und das wird zum Running Gag, weil man den in der Orchesterfassung vor allem im letzten Satz praktisch nicht hören kann. Das ist in der Klavierfassung natürlich grundlegend anders, so anders, dass Henriette Gödde, die es offenbar gewohnt ist, sich gegen das Orchester Gehör verschaffen zu müssen, hier die beiden Klaviere teils ins völlige klangliche Abseits stellt. Ihre warme Artikulation kann man dadurch aber natürlich besonders gut begutachten, und zudem versteht man auch ohne Mitlesen auf dem Programmzettel hier jedes Wort. Und die gewisse Unausgewogenheit hin oder her – wie die erste Hälfte dieses Satzes an diesem Abend gelingt, verdient nur ein Prädikat: zauberhaft.
Hatten Meyer und Zoller den instrumentalen Part bis dahin tatsächlich allein bestritten, so tritt im letzten Satz noch ein dritter Instrumentalist hinzu: Konrad Schreiter wechselt zwischen Trompete und Flügelhorn hin und her und spielt sozusagen die Rolle des Fernorchesters, musiziert also tatsächlich draußen vor der Kirche und steht so, dass Zoller ihm durch eine geöffnete Tür die Einsätze geben kann. Auch wenn er zwischendurch mal bedenklich wackelt, reiht er sich doch generell in das hochklassige Leistungsniveau ein, und rein stimmungsseitig ist’s sowieso schwer vorstellbar, wenn man auf seinen Part verzichten hätte wollen, wenngleich es auch dafür sicher irgendeine Lösung gegeben hätte. Die beiden Pianisten nehmen den Satzanfang recht wild herausfahrend und unheildrohend, fahren das Geschehen dann aber weit zurück und rollen sozusagen die Teppiche für das Fernorchester, äh, den Fernbläser aus, bestehend aus ultratiefem Gedonner im leisen Bereich. Und wie Meyer und Zoller die Stimmung des anschließenden großen Blechchorals, eine der ergreifendsten Stellen der Orchesterfassung, auf den Klavieren transportieren, das gehört zu den allerschwierigsten Aufgaben überhaupt, genau genommen zu den unlösbaren, und die beiden kommen einer Lösung aber zumindest recht nahe. Sopranistin Annika Steinbach, die später hinzutritt, führt eine angenehme, gedeckte und prima mit Göddes Alt harmonierende Stimme ins Gefecht, was hier besonders wichtig ist, da man im Gegensatz zur Orchesterfassung den Alt ja wirklich hört (selbst der Sopran hat üblicherweise arg zu kämpfen, um sich gegen das Orchester durchzusetzen). Dem Chor wiederum merkt man anfangs an, dass monatelang kein gemeinsames Singen möglich war – aber der etwas faserige Eindruck weicht bald und macht der gewünschten Homogenität Platz, wobei klanglich vor allem die Bässe mit enormer Klangfülle zu überzeugen wissen. Meyer dirigiert den Chor zu Beginn, Zoller allein spielen lassend, bald aber greift auch er wieder in die Tasten und gibt nur noch einzelne Einsätze. Das große Chorfinale gerät dann auch in dieser reduzierten Besetzung zur totalen Entrückung, wie sie richtig gute Orchesterauftritte ebenfalls erzeugen können (der Rezensent erinnert sich immer noch mit wohligem Schauer an Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester beim Mahler-Festival 2011), und das ist der eigentliche Clou dieses Abends: Diese entrückende Wirkung hätte man sich vorab eigentlich nur mit allergrößtem Optimismus vorstellen können und ist umso angenehmer überrascht, dass sie tatsächlich eintritt. Dass der instrumentale Schluß im Gegensatz zur Orchesterfassung hier nichts mehr draufsetzen kann – geschenkt: Das Chorfinale hat alle Erwartungen übertroffen. Lauter Applaus belohnt die Mitwirkenden für ein außergewöhnliches Konzert – kein Ersatz für eine richtig gute Orchesterwiedergabe, aber für sich betrachtet ebenso originell wie exzellent, und das ist das größte Kompliment, das man diesem Projekt machen kann.
Roland Ludwig
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