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Info
Zeit: 23.09.2017
Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater FMB
Fotograf: BSMO e.V.
Internet:
http://www.hmt-leipzig.de
http://www.bundesschulmusikorchester.de
Im Orchester der Leipziger Musikhochschule spielen Studenten, die ihr jeweiliges Instrument an der Hochschule studieren, im Leipziger Universitätsorchester hingegen finden wir Studenten, die in Leipzig studieren, aber ein nichtmusikalisches Fach. Das seit 1995 existente BundesSchulMusikOrchester wiederum steht strukturell zwischen diesen beiden Klangkörpern: Seine Musiker studieren zwar Musik, aber auf Lehramt, werden also nicht als Orchestermusiker oder Instrumentalsolisten ausgebildet, sondern irgendwann (sofern sich die Kassandrarufe über den immer weiter abnehmenden Status des Musikunterrichts an Schulen nicht bewahrheiten und das Ganze irgendwann in völliger Agonie endet) vor Schülern ganz normaler Schulen stehen und diesen Wissenswertes über die Kulturform Musik, ggf. ergänzt durch praktische Fertigkeiten, beibringen. In ihrer Freizeit betätigen sich etliche dieser Lehramtsstudenten aber auch als Hobbyorchestermusiker, und etwa 120 sind beim diesmaligen Projektkonzert des BundesSchulMusikOrchesters dabei, ergänzt um etwa 60 Sänger, die zusammen den für ebenjene aktuelle Projektphase neu gegründeten BundesSchulMusikChor bilden.
Besagte aktuelle Projektphase besteht aus drei Konzerten, zweien am Vortag in Halle (davon ein Schülerkonzert und eins mit dem normalen abendfüllenden Programm) und einem am vom Rezensenten miterlebten Samstagabend im Großen Saal der Leipziger Musikhochschule. Dass der gar nicht so groß ist, stellt sich bei so einer Besetzung schnell heraus: Die kompletten Parterresitzreihen müssen abgebaut werden, damit alle 180 Musiker Platz auf der vergrößerten Bühne finden, wodurch locker ein Viertel der Besucherplatzkapazität verlorengeht. So erzeugt die starke Ticketnachfrage rasch ein Kapazitätsproblem, was zu der kuriosen Situation führt, dass der Rezensent, der sehr spät dran ist, keine regulären Tickets mehr bekommt, da diejenigen, die für ihn und seine Begleiterin reserviert worden waren, noch in den Abendkassenverkauf gegangen sind. Aber auf der Empore gibt es noch einige Stehplätze, und so findet sich ganz rechts hinten in der Ecke am Übergang zur Beleuchterebene noch ein Plätzchen mit guter Sicht auf fast alle Beteiligten und zudem gehörschonenden akustischen Verhältnissen.
Aber der Reihe nach: Die erste Konzerthälfte beinhaltet zwei von Gustav Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen, nämlich „Ging heut morgen übers Feld“ und „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz“. Ersteres eröffnet das Konzert mit dem gut verständlichen und über eine hübsche Stimme verfügenden Tenor von Christopher B. Fischer, während Dirigent Kiril Stankow das Orchester so ätherisch hält, dass der Gesang tatsächlich klar und deutlich bis in die letzte Ecke dringt. Trotzdem bleibt eine grundsätzliche Lockerheit gewährleistet, so dass der Auftakt schon mal einiges für den Rest des Konzertes verspricht.
Das geht zunächst mit einem A-Cappella-Teil für den BundesSchulMusikChor weiter: Für Johannes Brahms‘Fünf Gesänge übernimmt Guido Mattausch, der auch für die gesamte Choreinstudierung des Programms verantwortlich zeichnet, das Dirigat, und die fünf allesamt recht kompakten Nummern klingen für einen justament erst gegründeten semiprofessionellen Chor allesamt schon recht vielversprechend und folgen zudem kurioserweise alle einem ähnlichen Schema: Nach einem nervösen Beginn finden die Sänger zueinander und bekommen nicht nur eine achtbare Homogenität, sondern auch die geforderten Klangwirkungen hin, unabhängig davon, ob sie etwa einen fröhlichen Beginn ins Fahle gleiten lassen oder aber einen großen Choral mit einiger dynamischer Bewegung intonieren müssen. Und das berückende Pianissimo im Finale des letzten Gesangs läßt noch mancherlei Großtat für die Zukunft erhoffen.
Ab „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz“ dirigiert wieder Kiril Stankow. Auch dieses Orchesterlied kommt erstaunlich kammermusikalisch und daher transparent nach oben geweht, und den gewitzten Wechsel in die unauffällig vorwärtsdrängende zweite Strophe bekommt durchaus nicht jedes Profiorchester so natürlich wirkend hin wie diese jungen Halbprofis hier.
Die größte Herausforderung wartet aber noch, nämlich das Hauptwerk des Abends: Gustav Mahlers 2. Sinfonie. Die hat der Komponist selbst zweigeteilt und nach dem ersten Satz, der auch als Orchesterstück namens „Totenfeier“ ein Eigenleben führt, eine Pause von mindestens fünf Minuten vorgeschrieben – ergo macht die Programmplanungsfraktion gleich Nägel mit Köpfen und plaziert besagten ersten Satz im ersten Konzertteil und die anderen vier dann im zweiten Konzertteil nach der Pause. Dafür setzt Stankow die Sinfonie aber gleich attacca ans Ende des genannten zweiten Orchesterliedes, was manchen Nichtkenner des Werkes im Publikum vielleicht überrascht haben mag. Die Energie läßt der Dirigent zunächst eher unterschwellig in der Tiefstreicherbewegung transportieren, bevor er das erste Tutti so gestaltet, dass schon ordentlich Lautstärke entsteht, aber zumindest oben in der Ecke des Rezensenten der Eindruck entsteht, dass plangemäß noch einiges an Reserven vorhanden sein dürfte. Gleichzeitig gelingt dem Orchester aber auch die Darstellung der Lieblichkeit des Seitenthemas gut, wobei besonders dessen erste Wiederkehr mit dem Hornchoral hervorzuheben ist. Ausbrüche aus dem Nichts gelingen ähnlich gut wie langes Hin und Her, und wenn tatsächlich mal Unordnung entsteht, das Blech wackelt oder sich Holzbläser und Kontrabässe akut uneins über gewisse Rhythmen sind, hat Stankow, der bereits Erfahrung in der Leitung von Jugendorchestern mitbringt, das Geschehen meist schnell wieder im Griff. In den wilderen Teil des Satzgeschehens legt er jedenfalls ein exzellentes Tempomanagement, wobei vor allem die Gestaltung zeitlupenhafter Zähigkeit überzeugt und nur der markante chromatische Schlußabstieg eine deutliche Schärfung vertragen hätte.
Die Sätze 2 bis 4, die nach der Pause erklingen, stellen eigentlich nur Geplänkel bzw. Hinführungen zum gewaltigen Schlußsatz dar, aber auch sie haben sowohl ihre Stärken als auch ihre Tücken. Die entspannte Lieblichkeit im zweiten Satz gelingt gut, und für den hervorstechenden Charakter des Mittelteils genügt somit ein recht mäßiger Energieschub, dem im dritten Satz auch noch böhmische Elemente hinzugefügt werden, und hier evoziert Stankow dann auch schon einen ziemlich lärmigen Ausbruch, der den unten Sitzenden die Ohren klingeln lassen haben dürfte, während oben in der Ecke des Rezensenten wieder genau die richtige Krachdosis ankommt. Plötzlich sind wir auch schon in Satz 4 (auch hier geht wieder einer attacca in den nächsten über) mit schönen ätherischen Wirkungen, wonach die Altistin Josephin Queck ins Geschehen eingreift und Stankow die Fähigkeit, das riesige Orchester so einzusetzen, dass der Gesang klar durchhörbar ist, ein weiteres Mal unter Beweis stellt, wobei Queck aber auch eine kräftige und durchsetzungsfähige Stimme ins Gefecht führt, die trotzdem der Schönheit und Eleganz nicht entbehrt und nur im höchsten, dem vorletzten Ton Anstrengung hörbar werden läßt. Der nächste große Ausbruch gehört dann schon zum fünften und letzten Satz und wird zunächst gekonnt ins Nichts zurückgeführt, wonach sich ein abwechslungsreiches Geschehen entspinnt, in das auch ein Fernorchester einbezogen wird, das hier nicht wie sonst üblich irgendwo neben oder hinter der Bühne aufgebaut wird, sondern oben vor der Emporentür spielt. Den Bühnenblechbläsern geht derweil etwas die Kondition aus, sie beginnen zum Schleppen zu neigen, bekommen aber zumindest den großen Tiefblechchoral, sobald er einmal im Laufen ist, noch in guter Qualität herüber. Stankow zeigt auch weiterhin große Fähigkeiten in der Dynamikgestaltung, die Schlagwerkriege legt in ihr kurzes Solo eine extreme Bedrohlichkeit, und dann kommt der Chor wieder zum Einsatz, der in seinen Pianissimi eine enorme Spannung aufbaut. Die kann die Sopranistin Annika Steinbach mit ihrer guten, aber etwas zu fahlen und vibratolastigen, allerdings auch vom Orchester ziemlich zugedeckten Stimme nicht reproduzieren, und auch bei den Schlagwerkern schleicht sich nunmehr einiges an Problemen ein. Auch Stankow selbst biegt vom richtigen Pfad hin zur totalen Überwältigung des Hörers im bombastischen Schlußteil falsch ab und zaubert „nur“ ein ordentliches, aber eben nicht überwältigendes Finale auf die Bretter – vielleicht sehen das die unten Sitzenden indes auch anders. Jedenfalls dauert es nicht lange bis zum ersten Bravoruf, und der Applaus gestaltet sich ziemlich intensiv, wobei vor allem der vielversprechende Chor verdientermaßen eine große Portion abbekommt.
Roland Ludwig
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