Diamantschleiferei: Andris Nelsons und das Gewandhausorchester mit Wagner und Bruckner
In ihrem aktuellen Bruckner-Sinfonie-Tonträger-Zyklus koppeln Andris Nelsons und das Gewandhausorchester die Werke des großen Österreichers mit solchen eines großen Sachsen, auf den der Österreicher weiland große Stücke hielt: Richard Wagner. Das ging so weit, dass Bruckner Wagner eine seiner Sinfonien widmete, nämlich die Dritte, und ab der Siebten begann er die sogenannten Wagner-Tuben einzusetzen, die Wagner für spezielle Soundwirkungen vorgesehen hatte, die man weder mit einem Horn noch mit einer Tuba richtig hinkriegt, sondern eben nur mit einem dazwischen positionierten Instrument. Obwohl es bis zum Totensonntag noch vier Wochen sind, kreist das Programm dieses Abends um den Tod. In Wagners Oper „Tristan und Isolde“ WWV 90 unterhalten sich zwei Leute vier Stunden lang über den Tod, behaupten Spötter, und sie liegen damit nicht ganz falsch – aber es geht auch um die Liebe, die eine ähnlich existentielle Erfahrung sein kann wie der Tod. Die Kombination aus dem Vorspiel der Oper und Isoldes Liebestod im Finale führt auch ein Eigenleben als rein instrumentales Konzertstück, und mit diesem beginnt das Programm. Nelsons holt sowohl die Lautstärke als auch das Tempo von ganz, ganz weit unten, wird aber mit Störgeräuschen des wieder mal recht stark infizierten Publikums konfrontiert, und prompt ist die Konzentration im ersten Tutti weg. Dafür entschädigt die wunderbare Klangfarbe, fahl, aber nicht ganz trüb, und der Dirigent lenkt den Klang geschickt in die Breite, baut aber nötigenfalls auch Distanz auf und entwickelt die Dynamik über viele Minuten hinweg lehrbuchreif. Zum Glück wird auch das Publikum etwas ruhiger, und die extreme Spannung, die in den zur Generalpause ausfadenden Kontrabässen liegt, hustet niemand kaputt – erst danach nimmt die Geräuschfrequenz wieder zu. Die Transparenz im großen Tutti wirft, wie man im nachhinein bemerkt, schon ein Schlaglicht auf das, was einen nach der Pause erwartet, die im Finale ausgebreitete Klangwiese gerät trotz einiger Akkordwackler sehr blumig, und die Finalspannung steht auch und wird nicht zerhustet. Das sorgt schon mal für reichlich Applaus seitens des Publikums. Nach der Pause gibt es Bruckners 9. Sinfonie d-Moll WAB 109, deren Bezug zum Tod höchst physisch ist, da der Komponist vor Vollendung des vierten Satzes starb (er liegt im hier abgebildeten Sarkophag) und das Werk daher zumeist nur mit seinen ersten drei Sätzen aufgeführt wird, obwohl es auch einige Versuche der Rekonstruktion dieses Satzes gab oder Bruckner selbst ein Te Deum aus seiner Feder als Ersatz ins Spiel gebracht hatte. Auch an diesem Abend weicht das Gewandhausorchester nicht von der allgemein geübten Praxis ab. Das Werk ist erstaunlicherweise erst im Januar 2023 an gleicher Stelle erklungen, damals aber unter Manfred Honeck – dem Rezensenten ist die zeitnahe Wiederholung (wie auch die des Wagner-Werkes, das es ebenfalls erst im Januar 2023 unter Omer Meir Wellber gegeben hatte) freilich sehr recht, denn erstens war er damals im Januar nicht dabei gewesen, und zweitens hofft er, dass Nelsons’ ganz spezielles Händchen für die Gestaltung Brucknerscher Klanglandschaften auch in diesem Falle zum Tragen kommt und ein erstklassiges Ergebnis hervorzaubern wird. Den ersten Satz, „Feierlich. Misterioso“ überschrieben, holt der Dirigent nicht ganz so weit unten aus dem Nichts wie bei Wagner, aber seine behutsame Gestaltung weist trotzdem schon den Weg, ebenso wie die erstaunlich fahle und doch wirkungsvolle Farbe der ersten Hornpassagen und der detailreiche Fortgang in Richtung des ersten Hauptthemas. Und bei dem staunt man dann die ersten Bauklötze: 98 von 100 Dirigenten nehmen es wie aus Stein gemeißelt, was durchaus seine Berechtigung besitzt – an diesem Abend aber steht einer der beiden anderen am Pult und meißelt es eben nicht aus Stein, sondern schleift es aus einem Diamanten heraus, kristallklar und immer noch weithin strahlend. Das Seitenthema gerät hingegen überraschend luftig, und so geht es weiter, wobei Nelsons bedarfsweise dann doch ein paar Klänge aus dem Nichts hervorzerrt. Ein paar Unsicherheiten z.B. in den Hörnern oder im Holz fallen in der Gesamtbetrachtung kaum ins Gewicht, denn die Diamantschleiferei in den Tutti geht weiter, wobei Nelsons zeigt, dass er auch Schärfe evozieren kann, wenn’s auf solche ankommt. Die Hinführung ins Satzfinale nimmt er extrem schleppend und erzielt genau damit eine immense Wirkung, zumal auch hier die Transparenz unübertreffbar erscheint und außerdem die Erkälteten im Publikum alle stillhalten. Wie nimmt man in dieser Grundstrategie das Scherzo? Man macht erstmal mit 100 Mann Kammermusik (bzw. tritt den Beweis an, dass das geht) und läßt das Thema dann abermals luftiger spielen, anstatt es mit purer Wucht auszustatten. Wie schon im ersten Satz fällt eine Extraportion souveräner Eleganz in den durch Piano-Paukenteppiche fortgesetzten Phrasen auf. Das Trio nimmt Nelsons tatsächlich schnell, wie Bruckner es drübergeschrieben hat, aber auch hier bleibt der luftige Charakter erhalten, wenngleich das Holz spielerisch an diesem Abend manchmal vom Genie in den Wahnsinn kippt. In der Gesamtbetrachtung bleibt das Trio der unauffälligste Bestandteil der Sinfonie, aber das ist nicht ungewöhnlich. Der Scherzo-Reprise fehlt naturgemäß der Überraschungseffekt des ersten Durchgangs, aber hier fällt die extreme Betonung der Generalpause in der letzten Themawiederkehr auf, der dann wieder ein relativ lockerer Schluß anhängt. Das Adagio will Bruckner „langsam, feierlich“ haben – er bekommt es an diesem Abend ultralangsam, aber auch ultraemotional: Nelsons preßt schon in der Einleitung förmlich Wasser aus einem Stein, zaubert dem Rezensenten an einer bestimmten Stelle genau den Gänsehautmoment hin, den ihm ein guter Dirigent dort hinzaubern muß – und was ist das für ein edler Ton, der da im weiteren Verlauf aus den Wagner-Tuben kommt! Immer wieder evoziert der Pultbeherrscher Hochspannung, der in den richtigen Momenten Entspannung folgt. Ein paar spieltechnische Unsicherheiten registriert man auch hier, aber erneut fallen sie nicht sonderlich ins Gewicht – man erfreut sich vielmehr an der kongenialen Gestaltung. Mit der extremen Schwerfälligkeit nagt Nelsons an einem Genre wie dem Funeral Doom, kontrastiert dieses aber hochgradig wirkungsvoll mit sehr langsam schwingenden (aber eben schwingenden) Gedanken. Große Klangwalzen sind in diesem Satz bekanntlich selten, aber die eine markante bekommt genau die gleiche Transparenz eingepflanzt wie die der ersten Sätze. Dazu tritt abermals eine sehr behutsame Finalgestaltung, und obwohl der Entschwebefaktor nicht ganz so groß ist wie heimlich erhofft, so freut man sich doch über den diesmal superedlen Hornton in diesem Finale und über die lange stehende Spannung, die positiverweise erneut weder zerhustet noch vorab zerklatscht wird. Und der Rezensent dürfte nicht der einzige Besucher gewesen sein, der immer noch auf der Suche nach seiner heruntergeklappten Kinnlade ist: Aufführungen dieser Sinfonie hat er schon öfter miterlebt, aber an diesem Abend hat er viele, viele Dinge wahrnehmen können, die er sonst nie gehört hat. Chapeau! Roland Ludwig |
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