Russische Märchen: Rachmaninow, Ljadow und Strawinsky mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera
„Einfach märchenhaft“ ist das 8. Saisonkonzert des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera überschrieben, wobei sich die Bezüge ins Außerweltliche konkret in der zweiten Programmhälfte manifestieren und übrigens alle in Rußland gründen. Dem 2. Klavierkonzert c-Moll op. 18 von Sergej Rachmaninow, das in der ersten Hälfte erklingt, könnte so mancher Besucher freilich auch ein „Märchenhaft!“ zuraunen, schließlich handelt es sich um einen Hit der Musikgeschichte, den man in gewissen Abständen immer wieder mal gerne hört – in Chemnitz etwa konnte man das in der jüngsten Vergangenheit, nämlich im Januar 2023, und nun also auch in Gera, hier freilich unter ganz anderen Soundverhältnissen: Der Flügel ist genauso groß wie der im Großen Saal der Chemnitzer Stadthalle, aber sein akustisches Entfaltungspotential im Raum deutlich geringer, was indes kein Nachteil sein muß, wenn man sein Ohr erstmal darauf geeicht hat. Die glockenartigen Akkorde, die Pianist Alexander Krichel (Foto) anfangs einwirft, muten sehr dominant an, aber das einsetzende Orchester engt den Spielraum für den Pianisten relativ stark ein. Trotz intensiver gemeinsamer Arbeit Krichels mit Dirigent Ruben Gazarian bleiben einige Abstimmungsprobleme, die im Laufe der ersten Minuten schrittweise ausgeräumt werden, und auch die Balance muß erst austariert werden, da die Dominanz kurioserweise wechselnd in beide Richtungen ausschlägt. Krichel spielt jedenfalls recht energisch und jugendfrisch, auch in sehr akzentuierten Satzschluß. Im Adagio sostenuto liegt das Tempo weit unten, das Holz klingt in den Melodielinien aber recht scharf, und auch Krichel wählt einen recht harten Grundton, schafft es aber trotzdem, ein Gefühl der Sehnsucht unterzubringen und den Hörer somit nicht daran zu hindern, im Gedenken an den unlängst verstorbenen Eric Carmen „All By Myself“ gedanklich vor sich hin zu singen. In der Hinleitung zur Kadenz erleben wir eine verhältnismäßig extreme Schärfe, und Krichel steht kurz vor dem Echo-Overkill, nachdem er schon bisher durch intensiven Gebrauch des Echo-Pedals aufgefallen war. Die Kadenz aber sorgt nachhaltig für entspannte Ruhe, die auch der Spannungserzeugung im Pianissimo-Satzausklang guttut. Im Allegro scherzando gibt Gazarian mit dem Orchester sehr flüssiges, lebendiges Spiel vor, Krichel übernimmt diesen Tonfall, und alsbald staunt man die sprichwörtlichen Bauklötze, dass die Balance zwischen Klavier und Orchester viel besser gelingt als im ersten Satz. Der angedeutete Seitengedanke kommt mit Zurückhaltung, die Fortspinnung läßt kaum Wünsche offen, der Triumphpart wird in die mögliche Breite ausgewalzt, und der Energietransport klappt ebenso tadellos wie der feiste Schluß, der mit sofortigen Bravi und lautem Jubel beantwortet wird. Krichel bedankt sich mit einer Zugabe, dem letzten Nocturne cis-Moll von Fryderyk Chopin – eben noch viele Töne, jetzt nur wenige, wie er launig ansagt. Trotz durchaus zügigen Grundtempos legt der Pianist viel Ruhe in sein Spiel, streichelt die Tasten bisweilen fast nur und erzeugt im Finale absolute Hochspannung – eine meisterliche Leistung, und in der Reihe hinter dem Rezensenten hört man Urteile wie „Wunderschön!“. Musik von Anatoli Ljadow hört man hierzulande sehr selten – das liegt unter anderem daran, dass er vergleichsweise wenig komponiert hat und den Auftrag, Musik für das Djagilew-Ballett „Der Feuervogel“ zu schreiben, offiziell aus Kapazitätsgründen nicht annahm. Wenn hierzulande etwas von ihm auf den Spielplänen steht, dann „Der verzauberte See“ op. 62, eine naturalistisch anmutende Märchenminiatur, für die Gazarian eine behutsame, perlende Gestaltung wählt, in ruhigem, aber durchaus nicht schleppendem Tempo. Das Gedonner aus der großen Trommel kommt passenderweise gefühlt von ganz weit hinten, Hustenanfälle auf den Rängen stören aber leider die wunderschönen Ausklänge mit Echo-Hörnern. Dann erklingt ultrafinsteres Kontrabaß-Gedröhn als Einleitung zu zauberischer Entrücktheit – Gazarian hat die Orchestersuite „Der Feuervogel“ gleich attacca angehängt. Nachdem Ljadow den Auftrag abgelehnt hatte, schrieb bekanntlich Igor Strawinsky die Ballettmusik, schaffte damit seinen internationalen Durchbruch und stellte später gleich drei Orchestersuiten aus dem Material zusammen, von denen an diesem Abend die dritte und umfangreichste von 1945 erklingt. Ballettmusik hatte das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera ja gerade erst ein paar Wochen zuvor im Armenien-Konzert auf den Pulten gehabt, ebenfalls unter Leitung Ruben Gazarians und in exzellenter Umsetzung, und so war von vornherein davon auszugehen oder zumindest zu erhoffen, dass die damals offenbarten Tugenden auch diesmal zum Tragen kommen würden. Das Molto moderato der Introduktion nimmt der Dirigent jedenfalls sehr düster und bedächtig und schafft damit wirkungsvolle Kontraste zum Tanz des Feuervogels mit seiner trotz Komplexität flotten Zugkraft und dem gleichermaßen anspruchsvollen wie lebendigen Holz. Die insgesamt zwölf Sätze (mit Ljadows Stück also ein „Teufelsdutzend“) gehen gleichfalls fast alle attacca ineinander über, und so vordergründig tänzerisch ausgerichtet sind sie lange Zeit gar nicht, aber dafür enorm vielfarbig. Erst im „Tanz der Prinzessinnen“ an Position VII wird eine Tanzform mal etwas länger durchgehalten, während das Lento der Pantomime III an Position VIII durch sein sehnsuchtsvolles Horn besticht. Das Rondo IX lebt von den verschiedenen Sololeistungen, der „Höllentanz des Katschtschei“ (das ist natürlich der böse Zauberer) bricht mit sehr viel Energie und hohem Tempo über den Hörer herein, außerdem kommt hier eine enorm große Schlagzeug-Vielfalt zur Wirkung, obwohl nur vier Planstellen besetzt sind. Der Dynamikkontrast zum Wiegenlied XI ist gleichfalls sehr vielschichtig arrangiert, und die sehnsuchtsvollen Holzbläserlinien in sanften Klangumgebungen lassen das Einschlafen des Subjekts (nicht des Hörers!) gelingen, ehe ein zauberhafter Übergang ins Finale führt, das die Größe erst nur andeutet, aber dann einen großen Tuttiausbruch bietet, erst schleppend, dann immer stärker zur Hochzeitsparty von Prinz Iwan und der durch ihn mit Hilfe des Feuervogels aus den Fängen Kaschtscheis geretteten Prinzessin drängend. (Was ist eigentlich aus den anderen 12 Prinzessinnen geworden, die der Prinz nebenbei auch noch mit gerettet hatte?) Einzeltongesäge mündet in einen kurzen Triumphschluß – und auch hier kommen die ersten Bravorufe quasi umgehend, und ausgedehnter Jubel belohnt Gazarian und das Orchester für ihre starke Leistung. Kuriosum am Rande: Wem „Der Feuervogel“ so gut gefallen hatte, dass er ihm gleich nochmal lauschen wollte, der hätte in diesem Fall nicht am Folgetag nach Altenburg gehen können (die meisten der Sinfoniekonzertprogramme des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera erklingen sowohl in Gera als auch in Altenburg, dieses hier aber nur in Gera), wohl aber drei Wochen später in Umkehrung der oben erwähnten Rachmaninow-Reihenfolge zur Robert-Schumann-Philharmonie nach Chemnitz ... Roland Ludwig |
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