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Info
Zeit: 01.03.2024
Ort: Altenburg, Theaterzelt
Fotograf: Ronny Ristok
Internet:
http://www.tpthueringen.de
Ruben Gazarian, seit 2020 Generalmusikdirektor am Theater Altenburg-Gera und seinen Vertrag allhier justament bis 2027 verlängert habend, stammt aus Armenien, einem Land mit einer reichen, in Mitteleuropa aber kaum bekannten Musikkultur. Klar, dem DDR-sozialisierten Hörer fällt automatisch das eine oder andere Werk von Aram Chatschaturjan ein, und dessen „Säbeltanz“ aus dem Ballett „Gajaneh“ dürfte auch so mancher im Ohr haben, der auf der Westseite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen ist (und sei es etwa in der Coverversion von Skyclad), aber zu entdecken gibt es da noch eine ganze Menge mehr, und so erscheint es nur logisch, wenn sich Gazarian daran macht, den hiesigen Hörern eine Palette armenischer Musik nahezubringen. In der Einführung zum 6. Konzert der Saison 2023/24 im Foyer des Altenburger Theaterzeltes wird deutlich, dass das Bibelwort „Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über“ auf den Dirigenten zweifellos zutrifft: Dramaturgin Ljubow Morosowa muß nur ein kleines Stichwort liefern, und schon hebt Gazarian zu einem mehrminütigen Monolog an, kommt über Pontius und Pilatus letztlich wieder zum Stichwort zurück und hinterläßt im Hörer das Gefühl, wirklich umfassend informiert worden zu sein.
Das Programm besteht interessanterweise zu einem großen Teil aus Ballettmusik, die auch ein Eigenleben im Konzertsaal führt. Drei Sätze aus einer Konzertsuite zum 1957 uraufgeführten Ballett „Marmar“ von Edgar Hovhannisjan bilden den Auftakt. Die Bühne ist brechend voll besetzt, und man hält jedes Mal den Atem an, wenn die Konzertmeisterin voll mitgeht und auf ihrem Stuhl Bewegungsenergie versprüht – das rechte hintere Stuhlbein steht nämlich in gefährlicher Nähe zum Bühnenrand ... Aber es passiert nichts – musikalisch hingegen passiert sehr viel, und das macht auch sehr viel Hörspaß, zumal wenn man gleich mit einem „Bacchanal“ empfangen wird. Flotte Offbeats paaren sich mit schrägen Tanzeinlagen inclusive ein paar Walzeranflügen, dazu treten elegische Verharrungen, und das Ganze erklingt immer wieder in unterschiedlichen und originellen Kombinationen. Das Adagio dagegen hebt mit großen traurigen Streicherflächen an, aber ein etwaiger Abgrund ist hier weit entfernt, und mit dem Holzeinsatz wird der Eindruck fast lieblich, was freilich abrupt einer zackigen Dramatik weicht, die wiederum in einen brillanten Zusammenbruch mündet, aus dessen Harfengesäusel sich ein feierliches, aber friedliches Finale herausschält. Die abschließende „Prozession“ spielt gleichfalls mit den Erwartungshaltungen des Hörers, denn hier geht es alles andere als feierlich zu, sondern eher groovig-locker, ehe später doch noch ein herrlich pseudo-staatstragender Eindruck zutagetritt. Wenn Dramatik entsteht, dann aus dem mal kurz dazwischenkeifenden Blech, und drei tiefe Akkorde schließen den Satz wie den gesamten Suitenausschnitt ab. „Schöne Musik“, war schon nach dem zweiten Satz aus der Reihe hinter dem Rezensenten zu hören, und entsprechend herzlichen Applaus spendet das Publikum dann auch.
Wenn es ein für die traditionelle armenische Musik typisches Instrument gibt, so ist das der Duduk, ein archaischer Verwandter der Oboe, der heutzutage sehr gern von Filmmusikkomponisten eingesetzt wird, wenn es darum geht, eine ganz spezielle melancholische Stimmung auszudrücken, die man mit keinem anderen Holzblasinstrument in dieser Weise hinbekommt (am ehesten noch mit einem Englischhorn, aber auch das ist kein hundertprozentiger Ersatz). Kaum jemand aber wird in diesen Fällen wissen, welches Instrument er da hört, und als Soloinstrument bekannt ist der Duduk in Mitteleuropa erst recht nicht. Das ändert sich an diesem Abend für das Konzertpublikum in Altenburg mit der Uraufführung der Sinfonia Nr. 3 (un poco concertante) „In Shape of Singing Apricots“ von Vashe Sharafjan, in der der Duduk umfangreiche solistische Aufgaben zugewiesen bekommen hat, wenngleich das Werk nicht als Solokonzert, sondern als Sinfonie betitelt ist, aber eben mit obligatem Duduk – oder mit obligaten Duduks, denn Geworg Dabaghyan, eine der aktuell größten Kapazitäten auf diesem Instrument, bringt gleich etliche unterschiedlich gestimmte Exemplare zum Erklingen. Sonderlich durchsetzungsfähig gegen ein volles Orchester ist der Duduk freilich nicht, auch nicht gegen das etwas schmaler als bei Hovhannesjan besetzte (und die Konzertmeisterin sitzt jetzt sicherer), aber da der Komponist das weiß, hat er dem Soloinstrument jeweils nur zurückhaltende Orchesterteppiche beigesellt, während es in den Tutti schweigt. Die vier Sätze, die sich jeweils mit bestimmten Aspekten rings um die in Armenien oft angebaute Aprikose befassen, gehen allesamt attacca ineinander über, und der Duduk übernimmt durchaus auch Motive, die die Holzbläser im Orchester evoziert haben, und entwickelt sie auf seine immer leicht entrückt wirkende Weise weiter. Das Spielen dieses Instrumentes erfordert einen enorm hohen Druck und viel Luft – das bemerkt auch der instrumentenkundliche Laie, wenn er den permanent mit aufgeblasenen Backen agierenden, in ein traditionelles grünes Gewand gehüllten Solisten sieht. Aber laut ist der Duduk trotzdem nicht, und man muß sich schon in Reihe 3 ziemlich konzentrieren, um alle Feinheiten seines Spiels wahrnehmen zu können. Die Tonsprache von Sharafjans Werk ist deutlich schräger und unzugänglicher als die des Hovhannesjan-Balletts, wirkt bisweilen wie eine Steigerungsstufe diverser Spät-Spätromantiker, und man ist sich nicht wirklich sicher, ob man den im zweiten Satz dargestellten „Tanz der Düfte“ auch in der Realität wahrzunehmen gewillt wäre. Einige sehr naturalistische Effekte überraschen strukturell nicht, etwa Schläge aus der Großen Trommel, die die aufspringenden Knospen symbolisieren, und wenn der Duduk über einem Teppich aus Pianissimo-Celli soliert, hört man das Rauschen der Zeltlüftung so deutlich, dass man völlig überrascht ist, wie gut sich dieses ungeplante Geräusch in die Stimmung dieser Stelle einfügt. Im vierten Satz „Die Form der singenden Aprikosen“ schweigt der Duduk ganz, dafür kommen aus dem Orchester u.a. diverse ungewöhnliche Klänge, die an eine Singende Säge erinnern. Der Applaus ist auch hier herzlich, der Komponist ist anwesend, und der Solist spielt als Zugabe noch ein Medley aus dem Stück „Keler-Tzoler“ von Komitas und zwei Volksliedern, das noch weiter entrückt beginnt als die erwähnte Teppich-Stelle, der es in der Besetzung gleicht, aber letztlich in flotten Gefilden mündet, die es in der ganzen Sinfonie nicht mit Duduk-Besetzung zu hören gab. Dafür erntet Dabaghyan interessanterweise einen noch stärkeren Applaus als für die Sinfonie.
Der zweite Programmteil gehört dann in Gänze Aram Chatschaturjan: Ruben Gazarian, über dessen Dirigat an diesem Abend man keine Worte verlieren muß (er meistert sein „Heimspiel“ souverän), hat aus dessen Ballettsuiten „Gajaneh“, „Maskerade“ und „Spartakus“ eine fünfzehn Sätze und etwa eine Stunde Spielzeit umfassende „Große Retrospektive“ zusammengestellt. In der Konzerteinführung hatte der Dirigent prognostiziert, dass erstens die Stunde wie im Fluge vergehen werde und zweitens dem Hörer das eine oder andere der Themen sicher noch bekannt vorkommen werde – die Ballette gehörten in der DDR zum Stammrepertoire vieler Bühnen, und auch den zugehörigen Suiten begegnete man immer mal im Konzertsaal. „Gajaneh“ war sogar Schulstoff im Musikunterricht der 7. Klasse, und mit Material aus diesem Ballett, das gleich drei Suiten „abwarf“, beginnt die Retrospektive: Siehe da, das einleitende Fanfarenthema sitzt tatsächlich noch irgendwo ganz hinten im Großhirn und wird freudig wieder hervorgekramt, ehe „Gajanehs Adagio“ aber erstmal eine ganz andere Stimmung transportiert, sich aus nachdenklichen Celli speist, deren Motivik dann Geigen und Bratschen übernehmen, ehe wiederum ein Cellozupfer das Ende setzt. Zu „Nunehs Variation“ wippt angesichts der flotten, locker-leichten Anlage der Fuß automatisch mit, wird aber ob der Kürze dieses Satzes schnell wieder gebremst, denn zum folgenden „Wiegenlied“ würde dieser Gestus nun nicht passen, selbst wenn nach lieblichen Themen aus Oboe und Flöte, deren Charakter sogar im Tutti erhalten bleibt, planmäßig einige Störfaktoren auftreten – offensichtlich ist Gajanehs Gatte Giko, ein arbeitsscheuer Alkoholiker, nach Hause gekommen und schlägt Krach, auch wenn er sich damit letztlich nicht durchsetzen kann. „Erwachen und Tanz der Aisha“ gestaltet sich zunächst logischerweise als Nocturne, zu dem die Flöte als „Nachtvogel“ auffällt, ehe das Aufwachen plötzlich geschieht und sich ein locker-eleganter Tanz mit einigen Schärfen entwickelt, der scheinbar mit Pizzikati endet, ehe doch noch ein feister Schluß dranhängt. Bei der „Baumwollernte“ herrscht offensichtlich kollektiver Frohsinn mit auffälliger Tutti-Steigerung, und der „Tanz der Bergleute“ gestaltet sich sehr flott und dynamisch, aber zugleich mit einer markanten Erdenschwere – das muß man in der Qualität erstmal hinbekommen, wie es das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera an diesem Abend tut und hier am Ende des „Gajaneh“-Blocks mit Zwischenapplaus belohnt wird.
Die fünf nun folgenden „Maskerade“-Sätze sind fast ausschließlich mit Tanzformen benannt. Der titelgebende Walzer kommt enorm schnell und zupackend rüber, wandelt sich aber in einen fast Mahler-artigen zweiten Teil, dessen Energie so intensiv ausfällt, dass Gazarian auf seinem Pult dynamisch in die Höhe springt, was in diesem zweiten Konzertteil öfter mal vorkommt – im Nocturne natürlich nicht, denn das ist zwar nicht tiefschwarz, aber doch düster eingefärbt, im Tempo freilich durchaus treibend und mit einem lieblichen Solo der Konzertmeisterin ausgestattet. Zur locker-flockigen Mazurka hingegen könnte man fast schunkeln, müßte aber auf einige geschickt gelegte Stolperfallen aufpassen. Die Romanze gerät wiederum lieblich, aber hier und da mischen sich Wermutstropfen in die Stimmung, die freilich nicht die Oberhand behalten. Ob die „Vogelhochzeit“-Anklänge Zufall sind, müssen Materiekenner entscheiden – Zungeschnalzen angehörs des Cello-Mini-Solos im Satzfinale können aber alle. Der diesen Teil abschließende Galopp gebärdet sich als flotter folkloristischer Speed mit gekonnten „Schweinchen“-Einlagen der Blechbläser und der Schlagwerker, von denen an diesem Abend gleich sechs im Einsatz sind und riesige, unterschiedlichst besetzte Batterien vor sich haben. Eine kurze Elegie gliedert den Galopp, der dann zackig endet.
Die letzten drei Sätze stammen aus „Spartakus“. Im „Adagio von Spartakus und Phrygia“ gestalten Flöte und Oboe ein bezauberndes Liebesduett, das immer wieder von riesigen Orchesterflächen unterbrochen und dramatisiert wird. „Aeginas Variation und Bacchanal“ legt schon in der Variation scharf vor und mutiert dann zum offbeat-dominierten Speed mit dynamischem Finale. Der „Tanz der gaditanischen Mädchen“ besitzt durchaus eine grundlegende Lieblichkeit, sein Tempo ist niedrig, aber sein Charakter vorwärtsdrängend (man erinnere sich an gute Interpretationen der Einleitung des dritten Satzes von Mahlers Erster), und „Spartakus’ Sieg“ geht nahtlos aus ihm hervor, wenngleich erst nach großem Kampfgetümmel und mehrstufiger Entwicklung. Das Bacchanal hatte zwar einen noch geringfügig stärker überwältigenden Charakter, aber die Retrospektive muß natürlich mit einem Sieg des Helden enden und nicht mit einer Orgie im Palast seines Gegners Crassus. Das Altenburger Publikum bricht natürlich trotzdem sofort in intensiven Applaus mit Bravorufen aus und wird noch mit zwei Zugaben belohnt: Wer „Gajaneh“ kennt, könnte sich gewundert haben, dass zwei seiner bekanntesten Stücke von Gazarian nicht in die Retrospektive übernommen wurden. Aber die gibt es jetzt noch als Extras, zunächst eine gediegene, nicht überschnelle, aber wirkungsvolle Version des „Säbeltanzes“ (was für ein extrem grooviges Xylophon!) und schließlich die zunächst gleichermaßen zügige, wie schwingende und zum Schluß einiges an Druck aufbauende „Lesginka“. Dass der Jubel da am Ende dieses hochinteressanten Konzertabends nicht abschwillt, ist klar.
Roland Ludwig
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