Italienische Oper aus der Stratosphäre: Das Gewandhausorchester mit dem Verdi-Requiem
„Das kann doch nicht stimmen, dass das Gewandhausorchester das Verdi-Requiem zum bisher letzten Mal in Leipzig 1960 unter Franz Konwitschny gespielt hat“, grübelt der linke Nebenmann des Rezensenten, als er diese Notiz im Programmheft entdeckt hat. „Ich habe das doch erst vor ein paar Jahren hier im Gewandhaus mit Riccardo Chailly gehört.“ Der Rezensent kann ihn beruhigen, dass sein Gedächtnis ihn nicht trügt – aber die Sache ist strukturell verzwickt: Am 25. und 26. Mai 2007 hat das Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly tatsächlich das Verdi-Requiem im Gewandhaus aufgeführt – aber die Konzerte stellten keine Eigenveranstaltung des Gewandhauses dar, sondern eine Gastveranstaltung der Oper Leipzig, da das Opernhaus weiland gerade saniert wurde. Da Chailly parallel auch Generalmusikdirektor der Oper war (wenngleich im wesentlichen nominell – viel am Pult gestanden hat er dort nicht) und das Gewandhausorchester bekanntlich auch als Opernorchester fungiert, ließ sich das problemlos organisieren, und so ist die Formulierung „Mit dem Gewandhausorchester in Leipzig“ im Programmheft nur ein klein wenig irreführend und hätte auf „Mit dem Gewandhausorchester bei Gewandhaus-Eigenveranstaltungen in Leipzig“ erweitert werden müssen, um den verzwickten Sachverhalt in allen Facetten korrekt wiederzugeben. Fest steht natürlich, dass Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“, dessen historisches Titelblatt hier abgebildet ist, so etwas wie italienische Oper im geistlichen Gewand darstellt, und für sowas hatte ein Mann wie Riccardo Chailly natürlich ein gutes Händchen und konnte die Italianata mit voller Kelle verteilen, vor allem dann, wenn er auch noch italienische Gesangssolisten am Start hat. 2024 nun steht Franz Welser-Möst am Pult, ein Österreicher also, und unter den vier mit dieser Aufführung allesamt am Gewandhaus debütierenden Sängern befindet sich kein einziger Italiener. Was wird das für diese Aufführung zu bedeuten haben? Die Streichereinleitung des Introitus holt der Dirigent schon mal von gaaanz weit unten, damit in diese Richtung ein breites Dynamikspektrum eröffnend. Für die Entwicklung nimmt er sich enorm viel Zeit, ohne freilich den Hörer zum Gähnen zu animieren. Auf der Orgelempore steht mit dem MDR-Rundfunkchor einer der Besten seines Fachs, wird in den ersten Chorpassagen aber noch sehr hintergründig eingesetzt, wobei der Chor-Tenor in den A-Cappella-Passagen indes schon recht dominant daherkommt. Unter den Solisten sticht in diesem Teil vor allem Tenor Limmie Pulliam, aber auch Sopranistin Asmik Grigorian hervor – und wenn sich die beiden mit Mezzosopranistin Deniz Uzun und Baß Mika Kares zum Quartett vereinigen, dann ist das schon hier ganz klar italienische Oper, auch ganz ohne Italiener. Punkt. Nein, Ausrufezeichen! Nach dem behutsamen Instrumentaloutro des Kyrie nimmt Welser-Möst das Dies irae extrem wild herausfahrend und in brutaler Lautstärke – auch nach oben hin reizt er das mögliche Dynamikspektrum also konsequent aus. Je zwei Trompeter links und rechts oben auf der Empore ergänzen den Surroundsound – und gerade dadurch fällt schmerzlich auf, dass sich die Bläser im Übergang zum Tuba mirum uneins sind. Dafür powert das Tuba mirum wieder gnadenlos nach vorn, während das Mors stupebit ins gegenteilige Extrem verfällt. Schon hier wird man einen gewissen Grundeindruck nicht los: Chailly hatte etwas schillernder agiert, Welser-Möst arbeitet geradliniger, ohne aber Abstriche am italienischen Eindruck zu machen. Die Mezzosopranistin besitzt eine relativ gedeckte Stimme, kann sich aber trotzdem energisch Gehör verschaffen, wird im Liber scriptus klar. Und wie man das Recordare fast beschwingt nimmt, aber eben nur fast, dafür erleben wir hier ein Musterbeispiel – das paßt auch prima zur Trostlosigkeit, in die wir hier münden, wonach der Tenor im Ingemisco allerdings sehr exaltiert antwortet und der Baß im Confutatis die große Predigergeste auspackt. Das Lacrimosa lebt dann wieder von der Gestaltung von Extremen, und das Solistenquartett agiert fast choralhaft, aber wieder eben nur fast, und das ist erneut gut so. Da verzeiht man auch die gewisse Unordnung im Pie-Jesu-Quartett, zumal die Sopranistin die Ohren des geneigten Hörers schon zuvor mit blitzsauberen Höhen verwöhnt hatte. Auch die Amen-Einsätze wackeln dann nochmal, bevor die riesige Sequenz gewohnt souverän zu Ende gebracht wird. Dass das schwindelerregend hohe Niveau, das diverse Bestleistungen vorgeben, nicht ganz durchgängig gehalten werden kann, ist menschlich, und so fehlt es im Offertorium bisweilen an der finalen Feinabstimmung. Dafür entschädigt die vielfarbige Kammermusik, mal mit dicker Tünche, aber auch mit einer extrem karg wirkenden Solovioline. Das Sanctus setzt seinen Weg nach dem erdigen Bombastauftakt extrem leichtfüßig fort, und Welser-Möst bremst im richtigen Moment. Dass Grigorian und Uzun trotz ihrer jeweiligen individuellen Klasse stimmfarblich nicht ganz hundertprozentig zusammenpassen, wird in ihren A-cappella-Passagen im Agnus Dei deutlich. Die Communio holt der Dirigent wieder von ganz weit unten, wobei das Solistentrio (alle ohne Sopran) hier nicht sonderlich hervorsticht, der Hörer sich aber über herrliche Instrumentalleistungen freuen darf, etwa aus den Flöten oder das Zeitlupen-Baßrollen. Was Asmik Grigorian wirklich kann, das wird erst im abschließenden Libera me so richtig deutlich. Dabei glänzt sie zunächst noch durch vornehme Zurückhaltung, während zunächst der betörende A-cappella-Chor auffällt und man die geniale Umsetzung des Fagottsolos genießt. Aber was Grigorian dann in den „ira“-Anhang legt, das streichelt die Seele des Hörers ganz besonders, bevor der Zorn des Herrn nochmal losbricht und das vielschichtige Können des Chores (was für Chorbässe!) in den Vordergrund stellt. Dann aber wieder die Sopranistin: Dass man sie selbst im wilden Chor-Orchester-Tutti noch klar hört, ist ein Verdienst sowohl von ihr als auch vom Klangmassenmeister Welser-Möst – aber ihr letzter Tonsprung hoch in die Stratosphäre sorgt endgültig dafür, dass der Hörer seine Kinnlade irgendwo auf dem Boden suchen muß. Das Gewandhausorchester zaubert noch einen dahingetupften Schluß hervor, in dem die Sopranistin an der Grenze zum Sprechgesang agiert – und dann steht die Spannung, steht extrem lange, keiner hustet, keiner klatscht vor. Zahlreiche Bravorufe und lauter Jubel belohnen die Mitwirkenden für eine überwiegend extrem starke Aufführung, und die Sopranistin verdient sich ein Sonderlob. Gelegentliche Wiederbegegnung in dieser Qualität sehr willkommen – ob nun bei Eigen- oder Gastveranstaltungen, aber vielleicht nicht erst in 64 Jahren. Roland Ludwig |
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