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Die mannigfaltigen Aspekte des Dihydrogenmonoxids: Ljadow, Rautavaara, Vaughan Williams und Debussy mit dem MDR Sinfonieorchester

Info

Künstler: MDR Sinfonieorchester

Zeit: 21.01.2018

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Wikimedia Commons

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Wasser hat bekanntlich die Eigenschaft, auch bereits unterhalb des Siedepunkts in den gasförmigen Zustand übergehen und nach oben steigen zu können – so erscheint es denn nicht unlogisch, das Konzert dieses Abends sowohl „Himmelwärts“ zu überschreiben als auch es in eine der von MDR-Sinfonieorchester-Chefdirigent Kristjan Järvi konzipierten programmatischen Komplexwochen, nämlich die mit dem Thema „Wasser“, zu integrieren. Die ganz unpoetisch Dihydrogenmonoxid genannte Substanz spielt bereits im ersten der fünf Werke dieses Sonntagabends eine zentrale Rolle, allerdings auf deutlich stärker romantische Weise, nämlich im Orchesterpoem Der verzauberte See von Anatoli Ljadow, dessen Werken man im heutigen Orchesterbetrieb nur extrem selten begegnet. Das ist zumindest im vorliegenden Fall schade, denn die in sich ruhende Tonmalerei würde man durchaus gerne öfter hören, zumal in einer so gelungenen Interpretation wie der dieses Abends. Järvi dirigiert das MDR Sinfonieorchester mit sehr naturalistisch demonstrativen Gesten, und dieses zaubert ein interessantes Klanggemälde in den Saal, nicht selten stark vom Solocello geprägt. Auch die diversen Steigerungen bleiben stets harmonisch, über allem liegt eine Art Nebel, da und dort ruft ein Vogel, und die gezeichnete weite Landschaft überrascht doch mit einem erstaunlich beengten Sichtfeld. Das alles ist hochromantisch, wie nur irgend etwas hochromantisch sein kann, und die Huster im gut gefüllten Gewandhaus beeinträchtigen die Schlußspannung zum Glück nur leicht.

Die Fantasia für Violine und Orchester von Einojuhani Rautavaara erklingt an diesem Abend als deutsche Erstaufführung – der finnische Komponist hatte sie der amerikanischen Geigerin Anne Akiko Meyers gewidmet, die sie mit dem Sinfonieorchester von Kansas City zur Uraufführung brachte und auch an diesem Abend in Leipzig die Solistin ist. Das Orchester wird deutlich kleiner als bei Ljadow, aber der Tuttiauftakt ist immer noch schräg genug, um das Publikum in eine falsche Richtung zu lenken: Die lange Linie der Solovioline, die sich dann entspinnt und nur jeweils von einzelnen Instrumentengruppen begleitet wird, gerät viel tonaler, und als dann die Kontrabässe zum Einsatz kommen, sind wir musikalisch plötzlich doch wieder in der Romantik angelangt. Das Grundtempo bleibt auch hier im langsamen Bereich, wenngleich nicht ganz so langsam wie bei Ljadow, aber auch hier fließt alles, und auch die kleinen Streicherbreaks und Ausbrüche bleiben im Grundsatz folgenlose Episoden, wenngleich einer derselben in einen längeren Orchestersolopart führt, bei dem sich die in ein langes weißes Kleid gehüllte Violinsolistin zum Orchester umwendet. Schrägere Passagen kommen nur noch aus dem Xylophon, und bald fließt wieder alles gemeinsam bis zum Ende, nämlich zwei kurzen Orchesterakkorden, bevor die Solovioline das letzte Wort hat.

Um die Stelle eines Violinkonzertes einzunehmen, ist diese Komposition ein wenig zu kurz, mag die Programmplanungsfraktion gedacht haben, und daher kommt danach gleich noch ein Stück für Solovioline und Orchester: die Romanze The Lark Ascending von Ralph Vaughan Williams, die zugleich mit ihrem titelgebenden Bild dem Konzertmotto so exakt entspricht, wie man es kaum direkter hinbekommen kann. In der englischen Heimat des Komponisten waren die Wiesen offenbar gerade zartgrün, denn eine solche Streicherwiese erklingt hier, über der sich die Solovioline in Lerchenmanier aufschwingt, bedarfsweise auch ohne Orchesterinstrumente und nur einmal etwas stärker klangunterfüttert. Die plötzliche, aber fröhliche Tempoverschärfung ist nicht von langer Dauer und mündet wieder in den anfänglichen Flug, nun allerdings mit einigen kräftigeren Orchesterfarben bereichert. Die Lerche aka Solo-Violine behält allerdings das letzte Wort, schwingt sich final gen Himmel und entschwindet den Sinnen des Betrachters irgendwo ganz weit oben, geerdet nur durch die Bronchialkranken des Publikums. Die Solistin erntet verdientermaßen reichen Beifall und gibt „a little chant from America“ zu, nämlich Variationen über „Somewhere Over The Rainbow“, die nach erstmaliger Einführung der Hauptmelodie diese mit immer neuen Verzierungen und Girlanden behängen und so romantisch entrückt ausfallen, dass selbst der Redakteurin, die beim MDR die Liveübertragung moderiert, die Sprache vor Rührung wegbleibt.

Ob Ralph Vaughan Williams in die Soloviolinenlinie echte Lerchengesangsmelodien eingeflochten hat und welche Lerchenarten überhaupt in England vorkommen, müssen die Ornithologen untersuchen. Bei Einojuhani Rautavaaras Cantus Arcticus op. 61, der nach der Pause erklingt, ist die Lage dagegen klar: Der Komponist hat in Lappland eine große Zahl von Vogelgesängen aufgenommen, die, vom Band eingespielt, mit regulären Orchesterklängen gekoppelt werden, und somit entsteht ein Konzert für Vogelstimmen und Orchester. Was sich von der Beschreibung her seltsam anhört, bekommt bei einer Liveaufführung einen ganz besonderen Charme, sofern man bereit ist, sich auf dieses Experiment einzulassen. Der Rezensent hat das Werk fast genau elf Jahre zuvor an gleicher Stelle schon einmal mit dem Bundesjugendorchester gehört und war hochgradig angetan, zumal die Vogelstimmeneinmischung damals so zurückhaltend geschah, dass man vor allem beim Ein- und Ausblenden eine Erfahrung der nahezu völligen Stille machen konnte, was das Paradoxon ergab, dass man sich für diese Erfahrung ausgerechnet in einen Konzertsaal begeben muß.
Die Wiederholung dieser Erfahrung gelingt an diesem Abend nur begrenzt. Zumindest Teile des Publikums wissen offenbar nicht, was sie erwartet, und nachdem die Orchesterflöten zu Beginn des ersten Satzes „The Bog“ ein langes Solo gespielt haben und die ersten Bandvögel eingeblendet werden, entsteht eine verwirrte Unruhe, gepaart mit an dieser Stelle völlig unangebrachter Heiterkeit auf den Rängen. Zwar legt sich dieser Effekt mit Fortschreiten des Werkes etwas, aber die Entrückung wieder herzustellen gelingt an diesem Abend nicht. Am Orchester und am Dirigenten liegt’s nicht: Die Musiker zaubern eine weite nordische Landschaft in den Saal, die Techniker geben sich die größte Mühe, die Vögel hörbar einzumischen und dennoch den nötigen Pegel für die Radio-Liveübertragung nicht zu unterschreiten, und der Dirigent schafft es, die Klänge so dosieren zu lassen, dass eine hervorragende Transparenz entsteht. Gleiches gilt für den zweiten Satz „Melancholy“, in dem nach der bunten Artenvielfalt des ersten Satzes nun nur die arktische Lerche singt und abermals eine große nordische Landschaft überfliegt. Auch der dritte Satz beschränkt sich auf nur eine Vogelart, aber diesmal in großer Individuenzahl: „Swans migrating“ bringt ziehende Singschwäne (siehe Bild oben) zur Geltung, auch hier klanglich nicht aus dem Nichts kommend, aber dafür mit äußerst geschickter orchestraler Adaption der Schwanenpolyphonie. Einmal setzt der finnische Komponist eine große Klanglandschaft aufs Tapet, lange vorbereitet und schnell wieder entschwindend, bevor die Schwäne wegziehen und der akustische Pegel diesmal wirklich im Nichts landet – die Huster halten sich zurück, und die Spannung paßt.

Hatte das Wasser soeben noch eher indirekte Funktion (im Moor oder als Lebensraum der Schwäne), so kommt ihm in La Mer von Claude Debussy nunmehr eine tragende Rolle zu. Die drei sinfonischen Skizzen heben mit „Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer. Sehr langsam“ an, nachdem sich die Bühne wieder deutlich stärker gefüllt hat. Das Meer bleibt scheinbar aber auch hier lange Zeit friedlich, die heranrauschenden Wellen versanden am Ufer – unterschwellig aber herrscht ein enormes Tempo, das Järvi durchaus mehr als nur latent erahnen läßt. Die gelegentlichen Wellenberge formt er mit akustischer Meisterschaft, und in den Satzschluß legt er einiges an Glanz.
„Spiel der Wellen. Allegro“ ist der zweite Satz überschrieben, und jetzt kehren sich die Tempoverhältnisse theoretisch um: Das, was Järvi im ersten Satz schon sicht- oder vielmehr hörbar gemacht hatte, kommt offiziell an die Oberfläche, wenngleich sich das Klangbild anfangs gar nicht so sehr vom ersten Satz unterscheidet. Aber das Meer gerät schrittweise doch in stärkere Bewegung, es bildet sich erster Schaum auf den Wellenkronen, der allerdings im Satzfinale nochmal komplett verschwindet und einem ruhigen Meeresspiegel Platz macht, in dem nur wieder mal die Hustenriffe aus dem Publikum stören.
Mit der Ruhe ist es im letzten Satz dann endgültig vorbei, denn es entspinnt sich ein „Dialog zwischen Wind und Meer. Lebhaft und stürmisch“. Das anfangs eher unterschwellige Grollen nähert sich schnell, wobei die große Trommel eine enorme Wirkung entfaltet, bevor die Hektik planmäßig erst richtig losbricht. Trotz den bedrohlich sägenden Violinen kommt der erste Ausbruch doch irgendwie überraschend, und die Ruhe danach ist trügerisch. Die Tonmalerei, wie die Wellen durch alle Streicher von unten nach oben laufen, gestaltet Järvi mit spürbarer Liebe, und als der mehrfach angetäuschte große Schlußbombast doch noch kommt, springt der Dirigent auf seinem Pult nicht nur symbolisch im Dreieck. Ein sofortiges Bravo belohnt die Mitwirkenden, und der Applaus fällt recht intensiv aus, aber in ihn mischt sich die wintertypische Abwanderungsbewegung derjenigen, die nicht an den Garderoben Schlange stehen wollen. Sie haben diesmal allerdings Pech, denn einigermaßen überraschend gibt es eine Orchesterzugabe, die Järvi scherzhaft als Probe für das nächste Orchesterkonzert der Wasserprogrammwoche, das drei Tage später ansteht, deklariert. Gespielt wird „Nimrod“, die neunte von Edward Elgars Enigma-Variationen, und die paßt mit ihrem großen breiten romantischen und hymnischen Adagio natürlich bestens ins Stimmungsbild des regulären Konzertprogramms. Nach der letzten Steigerung zaubern Järvi und die Musiker auch noch einen extremen Gänsehautschluß hin, wie man ihn nicht alle Tage hört und der einen perfekten Abschluß für ein sehr interessantes Konzert mit ziemlich rarem Programm bildet.

Roland Ludwig


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