Der doppelte Malcolm und die Lücke von 34 Jahren: Brian Johnson erzählt über Teile seines Lebens
Dem Rezensenten wird es gegangen sein wie vielen anderen Kindern bzw. Jugendlichen, die in der DDR aufwuchsen und in den 1980ern erstmals näher mit Musik in Berührung kamen: Man kannte den Namen AC/DC, vielleicht hatte man bei Kai Böcking in „Formel Eins“ mal einen Clip von ihnen gesehen, mit etwas Glück hatte irgend jemand aus dem Umfeld von ungarischen oder polnischen Schwarzmärkten mal eine LP der Aussies mitgebracht, die dann fleißig auf Kassetten kopiert wurde, und mit noch mehr Glück besaß jemand aus dem Umfeld das Highway To Hell-Album in der Amiga-Lizenzpressung, die wie viele ähnliche Highlights praktisch nur als Bückware unter dem Ladentisch zu haben war (und tatsächlich alle zehn Songs enthielt, die sich auch auf den internationalen Pressungen befanden, was nicht immer der Fall war). Letztgenannter Personenkreis war mit Bon Scott am Mikrofon vertraut, spätere Werke ließen allerdings einen Wechsel erkennen, denn da sang plötzlich ein Typ mit Schiebermütze namens Brian Johnson. Im konkreten Falle des Rezensenten war es erst die Wendezeit, die ihn erstmals auf das Schaffen von AC/DC stoßen ließ. Ein älterer Cousin besaß tatsächlich die erwähnte Highway To Hell-Pressung und hatte sich bei erster Gelegenheit im Westen auch noch die LPs Let There Be Rock und Powerage zugelegt, erstgenannte übrigens in der Version mit „Crabsody In Blue“ statt der Zweitfassung von „Problem Child“, allesamt aber aus der Ära Bon Scott stammend. Parallel aber flimmerten Videos des The Razors Edge-Albums über den Fernsehschirm, nämlich „Thunderstruck“ und „Moneytalks“, so dass der zwischenzeitliche Sängerwechsel entsprechend ins Bewußtsein rückte. In der Folgezeit wurde auch die eigene Sammlung natürlich aufgestockt, und der Rezensent freundete sich akustisch mit beiden Vokalisten an. Zu tiefer grabender Forschungsarbeit aber kam es nur punktuell – so fanden etwa zwei spätere Soloalben von Dave Evans, der vor Bon Scott am AC/DC-Mikrofon gestanden hatte, Eingang in die hiesigen Bestände. Auf Material von Geordie, bei denen Brian Johnson vor seinem Einstieg bei AC/DC gesungen hatte, trifft das jedoch bis heute nicht zu. Die vorliegende Autobiographie von Brian Johnson stößt den Rezensenten nun wieder einmal auf dieses Versäumnis, sogar recht nachdrücklich. Der Titel verheißt nämlich schon eine gewisse Vielfalt im Leben des Vokalisten, welche die Lektüre dann allerdings überraschend anders gestaltet. In der Schilderung klafft nämlich eine riesige, 34 Jahre umspannende Lücke, die von 1981 bis 2014 reicht, also die markantesten AC/DC-Jahre Johnsons umfaßt. Damit wird zunächst klar, dass alle enttäuscht sein werden, die hier quasi eine verkappte Bandbiographie erwartet haben, zumal das Bandlogo natürlich auch im Hintergrund des Covers prangt. Beim genaueren Überlegen gehört es genau dort, nämlich in den Hintergrund, aber auch hin. Um die Band geht es, von einer Rahmenhandlung abgesehen, in der vorderen Hälfte nämlich überhaupt nicht, im ersten Viertel nicht mal um Musik überhaupt. Statt dessen handelt es sich tatsächlich um eine Schilderung von Johnsons Leben, der im Nachkriegs-Nordostengland als Sohn eines Engländers und einer Italienerin aufwuchs – eine spannende Konstellation, wenn man sie beispielsweise mit der Situation von Campino aka Andreas Frege vergleicht, der im schon etwas späteren Nachkriegsdeutschland als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin aufwuchs. Johnson verdiente sich seine erste Gesangsanlage als Freiwilliger in einem Fallschirmbataillon, ging durch alle Entwicklungsschritte von typischen englischen Pub-Bands und kam schließlich mit Vic Malcolm zusammen, einem im englischen Nordosten relativ bekannten Gitarristen, dessen Bandprojekt U.S.A. alsbald einen Plattenvertrag bekam, auf Druck des Labels allerdings in Geordie umbenannt wurde, einem Slangausdruck für die Bewohner Nordostenglands. Mit Malcolm brachten Geordie zwei Alben heraus, ohne ihn dann noch eins, das aber fürchterlich floppte und das vorläufige Ende der Band besiegelte. Johnson hielt sich mit einigen Sänger- und anderen Jobs über Wasser und gründete schließlich eine Werkstatt, die Vinyldächer in Autos einbaute – nebenher betrieb er als Hobby eine neue Geordie-Inkarnation, die durchaus das Zeug zu mehr gehabt hätte, wenn, ja wenn nicht gleich mehrere Leute auf die Idee gekommen wären, dass der Vokalist der beste Kandidat für die nach Bon Scotts Tod neu zu besetzende Position am Mikrofon von AC/DC sei, darunter Robert „Mutt“ Lange, der Highway To Hell produziert hatte. Johnson überzeugte die Young-Brüder (dass einer der beiden mit Vornamen Malcolm heißt, stellt einen hübschen Treppenwitz der Musikgeschichte dar), und gemeinsam erschuf man das Back In Black-Album, eines der meistverkauften Musikwerke dieses Planeten. Mit der Tour zu diesem Album bricht die Schilderung im Buch ab – für einen zweiten Band bleibt also mehr als genug Raum offen. Die Rahmenhandlung setzt 2015 ein, als Johnson aufgrund einer Ohrinfektion seinen Platz bei AC/DC räumen mußte – auf Dauer, wie anfangs alle dachten, bis sich aufgrund einiger Spezialbehandlungen der nahezu völlig verlorene Hörsinn wieder einstellte und der Sänger für das Power Up-Album zur Band zurückkehren konnte, womit das Buch endet. Johnson präsentiert sich vom Tonfall des Erzählers her so, wie man das von ihm erwartet: als schnörkelloser ehrlicher Arbeiter, der geradeaus denkt, aber durchaus auch einen Sinn für Abzweigungen hat, dessen Horizont nicht beim nächsten Glas Hochprozentigem endet und der zugleich geschickt, wenngleich wohl ungeplant mit dem deutschen Begriff „Autobiografie“ spielt – schließlich bilden fahrbare Untersätze einen Teil seiner Leidenschaft, aber auch seines einstigen Berufslebens, wobei der verbale Doppelsinn im englischen Original gar nicht auftritt, während der im Haupttitel des Buches in beiden Sprachen paßt und auch textlich reflektiert wird: Hat eine ehemalige Semibekanntheit der Rockwelt, die mittlerweile in ein weitgehend „normales“ Leben zurückgekehrt ist und die 30 schon überschritten hat, eine reale Chance auf den Posten des Sängers einer der größten Rockbands des Planeten? Die Geschichte hat gezeigt, dass diese Frage mit Ja zu beantworten ist, und man liest zwischen den Zeilen nicht selten Johnsons Dankbarkeit, dass ihm als aus eher ärmlichen Verhältnissen stammendem Jungen dieser Schritt gelungen ist. Übrigens findet sich auch jede Menge Humor und gelegentlich Sarkasmus zwischen den Zeilen, zumindest in der von Daniel Müller und Sven Scheer übersetzten deutschen Version, aber sicherlich auch im Original. Und zudem zeigt der Autor Züge eines britischen Gentleman: Fast alle, die ihm übel mitgespielt haben, werden mit einer gewissen Altersmilde betrachtet, mit der wesentlichen Ausnahme seines Fallschirm-Sergeanten, der allerdings wirklich ein übler Typ gewesen sein muß. Mit seiner Liebschaft, die er für den Einstieg bei AC/DC opfern mußte, da die daraus resultierenden Lebensentwürfe inkompatibel gewesen wären, geht er hingegen sehr nobel um und nennt nicht mal ihren Namen. Und in gewisser Weise ist er immer ein Familienmensch geblieben, der sehr an seinen beiden Töchtern aus einer früh geschlossenen, nach einigen Jahren aber gescheiterten Ehe hängt. Der Mittelteil des Buches enthält einen Bilderblock von Kindesbeinen an bis hauptsächlich ins Jahr 1980; zudem besitzt jedes der 24 Kapitel ein Eingangsbild, die sich bisweilen selbst erklären, bisweilen aber auch nicht – Bildunterschriften gibt es hier im Gegensatz zum gesonderten Bildblock nicht. Der Epilog enthält zudem einen musikalischen Stammbaum Johnsons und verschiedener seiner historischen Mitstreiter, den freilich mal noch jemand auf Kongruenz mit dem Haupttext hätte prüfen sollen – die letzte Geordie-Inkarnation, im Text Geordie II genannt, heißt hier beispielsweise nur Geordie (sie ist als Zusatz einer Line-up-Zählung noch mit der Ordnungszahl versehen). Johnson gibt selbst zu, dass manche Ereignisse im Dunkel der Gedächtnisgeschichte verschwimmen und einiges an Fakten mit Hilfe externer Quellen rekonstruiert werden mußte, wobei sich in den meisten Fällen aber immerhin ein nachvollziehbares Bild ergibt. Dem Lesespaß tun die kleinen Ungereimtheiten indes keinen Abbruch – man verschlingt das Buch förmlich und wartet danach in der Tat umso gespannter auf einen Nachschlag mit den Jahren 1981 bis 2014, den der Autor im Text auch tatsächlich irgendwann zu liefern verspricht. Bleibt allerdings noch eine Grundfrage zu erörtern, nämlich die potentielle Konkurrenzsituation dieses Buches zu „Rockers and Rollers“, 2009 im englischen Original und kurze Zeit später auf Deutsch als „Rock auf der Überholspur“ erschienen und in letzterer Fassung von Kollege Jürgen Weber auf diesen Seiten rezensiert. Das ist nämlich auch eine Auto-Biographie von Brian Johnson – gemäß der Rezension allerdings eine, die sich tatsächlich auf die Vorliebe des Mannes für fahrbare Untersätze fokussiert und musikalische sowie weitere biographische Dinge nur peripher behandelt. Wenn das so stimmt, kommen sich die beiden Bücher praktisch kaum in die Quere, sondern ergänzen sich eher, was der Rezensent mangels Besitzes des Auto-Buches aber nicht aus eigener Lektüreerfahrung beurteilen kann. PS: Beim Schreiben dieser Rezension liefen im Hintergrund bewußt nicht AC/DC, sondern Kontrastprogramm in Gestalt von My Dying Bride und Stormwitch. Roland Ludwig |
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