Artikel
Info
Titel: Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde
Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492-07050-8
Preis: € 22
368 Seiten
Die Verbindung der Toten Hosen zum Fußball und speziell zu Fortuna Düsseldorf ist lange bekannt. Ältere werden sich sicher noch an die Aktion „Eine Mark für Fortuna“ erinnern, als die Eintrittskarten für die 1988er Tour jeweils 1 DM mehr kosteten, wofür die in akuten Nöten befindliche Fortuna dann einen zusätzlichen Spieler verpflichten sollte – die 150.000 Mark, die zusammenkamen, reichten zwar schon damals nicht für einen „ganzen“ guten Spieler, aber der Betrag stellte sozusagen eine Teilfinanzierung für die Verpflichtung von Oliver Gentsch und Anthony Baffoe dar, von denen sich speziell der letztgenannte als Treffer herausstellte. Um die Jahrtausendwende, als Fortuna Düsseldorf vor der Insolvenz und dem Absturz in die Niederungen des Amateurfußballs stand, sprangen die Hosen dem Club gar als Trikotsponsor zur Seite und retteten ihn vor der Pleite, damit wieder einen gewissen Aufschwung einleitend, der in der Saison 2019/20 sogar erneut Erstligafußball ermöglichte. Und wenngleich die Klasse nicht gehalten werden konnte und 2021 auch der sofortige Wiederaufstieg knapp verpaßt wurde, scheint aktuell erstmal eine gewisse Stabilität zu herrschen.
So weit, so bekannt. Aber da ist noch eine zweite, der Allgemeinheit weniger geläufige Verbindung zum runden Leder, und zwar bei Frontmann Campino. Bürgerlich Andreas Frege heißend und aus einer angesehenen Familie preußischer Richter und Pfarrer stammend (und mit Querverbindungen zum Leipziger Bankhaus Frege, einem der maßgeblichen „Kultursponsoren“ in der Messestadt im 18. und 19. Jahrhundert), würde kein Außenstehender vermuten, dass der Sänger Halb-Engländer ist und mittlerweile sogar die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt. Seine Eltern lernten sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Göttingen kennen und lieben, wo Joachim Frege neben seinem Jurastudium auch maßgebliche Funktionen in der studentischen Verwaltung bekleidete, während Jennie Whittaker sich im Auftrag des Foreign Office um gute Beziehungen zwischen der (west)deutschen und der britischen Jugend kümmerte und bei der Gelegenheit auch für sich persönlich einen Hauptgewinn erzielte. Die beiden heirateten 1948 und bekamen sieben Kinder, darunter anno 1962 als Vorletzter Andreas, der wie seine fünf überlebenden Geschwister (Peter starb mit nur einem halben Jahr an Lungenentzündung) zweisprachig aufwuchs, in den Ferien so manche Zeit bei seinen Cousins und anderen Verwandten auf der Insel verbrachte und dort letztlich auch zum Anhänger des FC Liverpool wurde, und das mit glühender Intensität, so dass er jeden Schnipsel über seine Helden sammelte. Da die Verwandten allerdings im englischen Süden lebten, war nicht daran zu denken, einmal ein Spiel des Vereins in seinem Heimstadion an der Anfield Road zu besuchen, und so sah Frege die Keegan, Dalglish & Co. erstmals anno 1978, als der FC Liverpool im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister gegen Borussia Mönchengladbach spielte und die Partie in Düsseldorf stattfand, weil ins Rheinstadion etliche zehntausend Zuschauer mehr paßten als auf den Bökelberg. Später trat der Fußball gegenüber den musikalischen Aktivitäten erst mit ZK und dann mit den Toten Hosen in den Hintergrund, aber die Katastrophe im Heysel-Stadion 1985 in Brüssel, als bei Ausschreitungen noch vor dem Anpfiff des Finales des Europapokals der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool 39 Menschen ums Leben kamen, traf den mittlerweile allgemein als Campino Bekannten trotzdem bis ins Mark, und es dauerte Jahre, bis er sich wieder stärker seiner Fußball-Leidenschaft widmete, zunächst der Anhängerschaft zum „Heimteam“ Fortuna Düsseldorf mit oben angesprochener Aktion, dann aber auch wieder zum FC Liverpool, den er 1994 während einer Hosen-Tour in England dann auch zum ersten Mal live im Heimstadion erlebte. Seither baut er seinen Terminkalender, wo immer es möglich ist, um die Spieltermine des Clubs herum und hat seit 2015 die Beziehung nochmal intensiviert. In diesem Jahr übernahm Jürgen Klopp das Traineramt der „Reds“, und aus einer simplen Glückwunschbotschaft des Vokalisten an den neuen Trainer entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den Familien. Nachdem der FC Liverpool schon 2018 im Finale der UEFA Champions League gestanden, aber dieses gegen Real Madrid verloren hatte, siegten die Reds im Finale des Jahres 2019 gegen Tottenham Hotspur und gewannen in der Saison 2019/20 nach drei Jahrzehnten erstmals auch wieder die englische Fußballmeisterschaft, noch dazu mit einem riesigen Vorsprung von 18 Punkten auf den Zweiten, Manchester City, nachdem zwischenzeitlich schon Ängste aufgekommen waren, die im März 2020 neun Spieltage vor Ende pandemiebedingt unterbrochene Saison könnte möglicherweise annulliert werden, bevor dann klar wurde, dass nach dem Abflauen der ersten Corona-Welle die fehlenden Begegnungen nachgeholt würden und der FC Liverpool letztlich bereits sieben Spieltage vor Saisonschluß als Meister feststand.
Das Buch „Hope Street“ nimmt die Meistersaison des Clubs gewissermaßen als roten Faden: Die meisten der 28 Kapitel beginnen mit einer kurzen Spielstatistik und sind über die Saison hinweg chronologisch angeordnet, wobei einige der Spiele dann auch im Text ausführlicher vorkommen, speziell natürlich solche, die Campino live vor Ort verfolgt hat – die Statistik führt auch auf, wo der Autor die Spiele sah. In diese Geschehnisse eingebettet ist quasi eine Autobiographie Freges samt Wurzelsuche bis hin zu seinen Urgroßeltern, wobei hier die chronologische Folge nicht mehr gewährleistet ist und der Leser daher etwas Abstraktionsvermögen benötigt, um aus dem Geschriebenen sozusagen einen Lebenslauf Campinos zu extrahieren. Und der ist keineswegs vollständig: Der Sänger hat in besagter Saison beispielsweise auch geheiratet, aber das erfährt man nur, weil in den ersten saisonbezogenen Textteilen bisweilen von seiner Verlobten, in den späteren aber von seiner Frau die Rede ist und weil der ehemalige Liverpool-Spieler Sami Hyypiä Campino mal darauf anspricht. Aber darauf kommt es letzten Endes auch nicht an: Es handelt sich um eine Familiensaga, die aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und statt dessen den besagten Fußballbezug als zentralen Aufhänger nimmt. Das bedeutet dann auch, dass Die Toten Hosen immer wieder vorkommen, mal als Band, mal einzelne der Musiker – aber es handelt sich eben auch nicht um eine Bandbiographie, obwohl Punkrock natürlich an verschiedenen Stellen auch zentrale Rollen spielt (nicht zuletzt der englische, den Campino schon von dessen Frühzeiten an miterlebte, aber auch der deutsche und speziell dessen Keimzelle im Ratinger Hof in Düsseldorf, wo neben ZK bzw. den Hosen beispielsweise auch die Fehlfarben und Male ihre Wurzeln hatten) und die Liverpooler Stadionhymne „You’ll Never Walk Alone“ von Gerry & The Pacemakers gleichfalls. Aber das alles findet sich eben in die große Fußballsaisongeschichte eingebettet, wobei der Autor ein gewisses Fachwissen beim Leser voraussetzt, also dass dieser den Liverpooler Kader besagter Saison kennt: In der Spielstatistik werden nur die Torschützen aufgeführt, aber nicht die Mannschaft, zu der sie gehören. Angesichts des gekonnten Umgangs mit der deutschen Sprache fällt seltsam auf, dass Campino bisweilen in die gleiche Falle tappt wie manche schon seit Jahrzehnten aktiven Sportjournalisten, wenn es um die Formulierung eines Auswärtssieges geht. Angenommen, ein Spiel zwischen Newcastle United und dem FC Liverpool fand in Newcastle statt und endete 1:3 – dann wäre die Formulierung „Liverpool landete in Newcastle einen 1:3-Sieg“, wie sie sich in ähnlicher Form im Buch mehrfach findet, Unsinn, weil man bei einem Sieg immer die Treffer des Siegers zuerst nennt, bei der normalen Texteinbettung dagegen die Tore der Heimmannschaft zuerst. Andererseits macht so manches gelungene Bonmot solche Problemfälle wieder wett. Kostprobe von S. 26: „Die Namen solcher Vereine wie Crystal Palace, West Bromwich Albion oder Queens Park Rangers klangen wie Zauberworte im Gegensatz zu Wuppertaler SV, Rot-Weiß Essen oder Hannover 96.“
Für den Leser hochinteressant dürften auch diverse soziologische Aspekte sein, nicht nur aus der Frühzeit der Punkgeschichte, sondern auch aus dem England des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts und natürlich der väterlichen Frege-Linie – Campinos Vater war einer der letzten Verwundeten, die aus Stalingrad ausgeflogen werden konnten. Dazu kommt selbstredend ein gerüttelt Maß an Fußballsoziologie, zum einen natürlich über die Geschichte des FC Liverpool und seiner Anhänger, zum anderen über das Fandasein im Allgemeinen. Kritische Reflexionen findet man dabei eher selten, am ehesten noch in der Corona-Zeit sowie bei einem Gespräch zwischen Campino und Hosen-Bassist Andreas Meurer auf der Rückfahrt von einem Champions-League-Spiel beim KRC Genk. Nur angedeutet wird der Status des FC Liverpool als Milliarden-Konzern, keinerlei Reflexion findet der Aspekt, dass auch ein Verein mit fannaher Attitüde schon lange im Profifußballgeschäft nur dann Erfolg haben kann, wenn er sich dessen Regeln unterwirft und vor allem drei Dinge zur Verfügung hat: Geld, Geld und Geld (wozu als viertes freilich noch der Aspekt tritt, dass man auch Leute braucht, die wissen, wie man das Geld nutzbringend einsetzen kann, da gemäß einem alten Bonmot Geld noch keine Tore schießt, was sich auf dem Platz noch heute allenthalben bewahrheitet). Aspekte wie die Treue der Spieler zum Verein sind da schon seit Jahrzehnten in den Hintergrund gerückt, auch in Liverpool: Von der Elf, die 1977 in Rom gegen Borussia Mönchengladbach den Europacup der Landesmeister gewann, stand 1984 beim analogen Triumph an gleicher Stelle, diesmal gegen den AS Rom, nur noch ein einziger auf dem Platz, nämlich Verteidiger Phil Neal. Kein Wort fällt über die Besitzstrukturen des FC Liverpool, der aktuell einem US-amerikanischen Investor gehört – immerhin einem, der auch sein Hauptgeschäft im Sport hat, und keinem Ölscheich oder russischen Oligarchen, wie das bei anderen Großclubs der Fall ist. Was Campino zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches Ende 2020 noch nicht wissen konnte, ist, dass auch der FC Liverpool zu den Zwölfen gehörte, die im Frühjahr 2021 eine Super League gründen wollten, in der es völlig unabhängig vom sportlichen Vergleich nur noch ums Geldverdienen gegangen, also das letzte Deckmäntelchen auch noch gefallen wäre, den Fußball als das erkennen lassend, was er heute ist: ein Geschäft wie jedes andere auch, in dem die Anhängerschaft nur noch als Melkkuh dient. Böse Zungen könnten jetzt freilich anmerken, es sei nicht verwunderlich, dass der Hosen-Fronter derartige Tendenzen (die ja nicht erst seit 2021 erkennbar sind) nicht anspricht: Im Musikgeschäft geht es schließlich über weite Strecken auch nicht wesentlich anders zu ...
Vielleicht läßt sich der Sänger auf ein Gespräch über solche Themen ein, wenn er dieses Jahr auf Lesetour ist (musikalisch begleitet von Hosen-Gitarrist Andreas von Holst aka Kuddel). Wer nicht hingeht, aber trotzdem ein Audio-Erlebnis haben möchte, kann das Werk als neunstündiges Hörbuch antesten, von Campino selbst gelesen und ebenfalls mit einigen Liedern untermalt. Trotz der kritischen Worte im letzten Absatz lohnt sich die Beschäftigung mit dem Buch allemal – wenn man nicht gerade beinharter Anhänger des FC Everton oder eines der beiden Großclubs aus Manchester ist.
Roland Ludwig
Zurück zur Artikelübersicht |