Besorgte Bürger im Stuhlkreis aus IKEA-Möbeln: zwischenFall open air in Prießnitz
Fast exakt 14 Jahre ist es her, dass der Rezensent zwischenFall letztmalig auf der Bühne erlebte. Damals war mit Martin Reichel gerade ein weiterer Multiinstrumentalist in die Band eingestiegen, der neben den beiden Projektköpfen Tobias Petzoldt und Marco Fiedler auch heute noch an Bord ist. Aber zwischenFall anno 2023 entpuppen sich als Quartett – mit Magdalena Adler gibt es noch einen weiteren Neuzugang, und auch die junge Vogtländerin beherrscht mehr als nur ein Instrument, so dass, wie der aufmerksame Hausherr Christfried Vetter an diesem lauschigen Abend im Pfarrhof Prießnitz feststellt, insgesamt 17 Instrumente zum Einsatz kommen, davon 16 von drei Personen gespielt: Petzoldt beschränkt sich aufs Singen und Sprechen und bedient nur in „Universum“ noch zusätzlich eine Gebetsmühle. Was sich nicht grundlegend verändert hat, ist der Stil der Formation. Der musikalische Chefdenker Fiedler nimmt alles, was sich irgendwie im Bereich von Rock, Pop, (jiddischem) Folk, Blues oder Chanson verorten läßt, her und zaubert daraus ein relativ eigenständiges Gebräu, das irgendwann mal mit „Poetry Rock“ umschrieben worden ist, weil Petzoldts mit Wortspielen gespickte Texte einen mindestens genauso bedeutsamen Stellenwert im Gesamtkonzept einnehmen, sogar einen so hohen, dass live immer ein gelesener Text mit einem Song alterniert, mittlerweile allerdings aus Büchern gelesen, während Petzoldt früher von Ausdrucken las und diese dann zerknüllte und ins Publikum warf, was mittlerweile durch die ressourcenschonende und nutzbringende Buchvariante ersetzt worden ist, die man überdies am Merchandisestand erwerben kann. Was es auf der Bühne nicht gibt, ist eine Rhythmusgruppe aus Fleisch und Blut – die Backingtracks kommen diesbezüglich komplett vom Band, woran man sich allerdings schnell gewöhnt, auch wenn die Möglichkeiten für livehaftige Improvisationen dadurch arg limitiert werden. Aber darauf sind zwischenFall per se sowieso nicht aus, auch wenn speziell Fiedler hier und da andeutet, dass er rein spieltechnisch viel mehr könnte als das, was er hier zeigt. Aber er stellt sein Können eben in den Dienst der Mannschaft bzw. des Gesamtbildes. Tonträgerseitig arbeitet das Quartett gerade an einer EP-Trilogie namens Die Quadratur des Stuhlkreises, von der die ersten beiden Teile bereits fertig sind und der abschließende dritte für 2024 angekündigt ist. Das neue Material dominiert den Set ziemlich stark, so dass der Rezensent im Hauptset nur zweimal wissend nicken kann, als das Quartett älteren Stoff auffährt: „Lob der Provinz“ und „Ich wünsche mir“ gehören zu den Klassikern der Formation, die letzte Zugabe „Zur Nacht“ (als einziger Song ohne Backingtrack auskommend) ist auch nicht ganz brandneu. Aber das neue Material lohnt das Entdecken definitiv, besitzt alle poetischen und musikalischen Qualitäten, die man von zwischenFall gewohnt ist, und packt noch ein paar ungewohnte Elemente obendrauf, primär natürlich Adlers Violine und ihr Glockenspiel, aber auch Reichels Klarinette und Fiedlers Sitar, die zu seinem sowieso schon reichhaltigen Fundus an Saiteninstrumenten (E-Gitarre, Akustikgitarre, Ukulele und Banjo) neu hinzugekommen ist. Petzolds Solo-Texte kommen meist a cappella, bisweilen aber auch von Reichel mit einem lauschigen Piano-Teppich unterlegt daher – und dass der Mann sowohl Humor und Phantasie hat als auch genau beobachten kann, steht seit jeher außer Zweifel. Da die Band sich zumeist im kirchlichen Milieu bewegt, sind entsprechende Beobachtungen entsprechend häufig, etwa über die Organisation ehrenamtlichen Engagements in der Kirche oder bestimmte Eigenheiten der Pfarrerschaft, aber die Themen bleiben nicht darauf limitiert. Der Text „Besorgte Bürger“ etwa läßt einen solchen zu Wort kommen, der herausgefunden hat, dass die kompliziert zu durchdringenden Bauanleitungen von IKEA-Möbeln den Konsumenten davon abhalten sollen, sich mit den wirklichen Problemen der Welt zu beschäftigen, und persifliert somit archetypisch das Zustandekommen einer neuen Verschwörungstheorie. Einige Insideranspielungen lassen den entsprechenden Entdecker besonders heftig grinsen (etwa in „Lobpreis“ die Aufforderung „Mache uns frey, Albert!“), aber die Texte sind in einem christlich sozialisierten Umfeld allgemeinverständlich genug, um keine Überforderung zuzulassen, und selbst darüber hinaus wäre immer noch reichlich Andockpotential vorhanden. Das trifft auch auf die vertonten Texte zu: „Ich werde alt“ trifft schließlich früher oder später auf jeden Hörer zu (und ja, Petzoldts Haarfarbe ist in den 14 Jahren ein Stück ins Graue gemorpht, wenngleich noch nicht in dem Maß wie beim Rezensenten während dieser Zeit), „Lob der Provinz“ mit seiner ehrlichen Heimat-Attitüde (die so gar nichts mit dumpfer Heimattümelei zu tun hat, vom neuen Namen der NPD ganz zu schweigen) beschäftigt sich mit Themen wie Wurzelsuche, „Ich habe Recht“ steht thematisch passend hinter dem „Besorgte Bürger“-Text, und „Universum“ macht sich über die Millionen Optionen der heutigen Sinnsuche lustig. Solche textlichen Steilvorlagen setzt Fiedler dann konsequent in Musik: „Universum“ besitzt einen monotonen mantraartigen Refrain, „Ich habe Recht“ kommt ziemlich „undeutsch“, nämlich jazzig daher, besitzt einen äußerst interessanten Tonartwechsel hin zum Refrain und bringt auch noch eine Mundorgel zum Einsatz, die ein wenig an die alte DDR-Triola erinnert, während „Ich werde alt“ in ironischer Weise mit einem flotten Dreiertakt unterlegt ist und „Gemeindeconsult“ ein ebenso ironisch triefendes düsteres Break beinhaltet, in dem geschildert wird, was mit einem externen Berater so alles schieflaufen kann. Unironische Ernsthaftigkeit können zwischenFall freilich auch, wie die erste Hälfte von „Du weißt Bescheid“ klarmacht, das man tatsächlich zu einer konsequenten Lobpreisnummer weiterentwickeln könnte. Auch der Quasi-Reisesegen „Manchmal“ kommt ohne Augenzwinkern aus, ebenso die letzte Zugabe „Zur Nacht“, mit der das Quartett die leider nur wenigen Besucher (die Veranstaltung ist mit mindestens einer weiteren, die in räumlich unmittelbarer Nähe eine ähnliche Zielgruppe anspricht, kollidiert) nach reichlich anderthalb Stunden anregender Darbietung entläßt. Der Fokus auf neuerem Material bedingt natürlich, dass ein paar alte Faves des Rezensenten wie „Egal“, „Windjacker“ oder „Tagewerk“ außen vor bleiben müssen – und auch die noch im letzten Jahrtausend begonnene Anja-Müller-Saga findet sich im Programm dieses Abends nicht wieder, obwohl sogar der Youtube-Kanal der Band unter dem Nick „Anja Müller“ läuft. Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob diese Saga auf der Stuhlkreis-Trilogie eine Fortsetzung gebiert – im an diesem Abend live erklungenen Material ist das bis auf eine kurze Anspielung im (bekanntlich auch schon älteren) „Lob der Provinz“ nicht der Fall. Aber der dritte Teil der Trilogie steht ja noch aus ... Setlist: Text: Die Wetterlage Immer schneller Text: Christen Stuhlkreis Text: Ehrenamt Ich werde alt Text: Hauptamtlich Oyoyoy Text: Sakristei Lob der Provinz Text: Erntedank Gebet Text: Besorgte Bürger Ich habe Recht Text: Wir finden uns selbst Universum Text: Hand und Fuß Manchmal Text: Fitness Ich wünsche mir Text: Abkündigungen Gemeindeconsult -- Text: Lobpreis Du weißt Bescheid Text: Schöpfung Zur Nacht Roland Ludwig |
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