Genesis – sechs Briten erinnern sich
Faktenreiche Bücher sind oft vor allem Fleißarbeiten, für die der jeweilige Autor eine große Masse an bekanntem Material zusammengetragen hat. Mario Giammettis zweibändiges Opus, dessen erster Band, der hier vorgestellt wird, die Jahre mit Peter Gabriel als Sänger behandelt, ist zugleich weniger und viel mehr als das. Dazu später mehr. Die Struktur des Buches Sechs Alben haben Genesis mit Peter Gabriel aufgenommen. Jedem von ihnen ist hier ein Doppelkapitel gewidmet, die jeweils exakt gleich aufgebaut sind. Es beginnt mit einem Making of, das die Entstehung des Albums beschreibt, den Prozess des Songwritings, der Aufenthalte im Proberaum und die Aufnahmen im Studio selbst. Dann wird das Album als Ganzes vorgestellt. Kernstück ist jeweils das Kapitel The Songs, in dem jeder einzelne Song im Detail besprochen wird. „Supper’s ready“ alleine kommt dabei auf mehr als acht Seiten. Danach wird das Artwork besprochen. Ein Epilogue blickt auf die Aufnahme, die das jeweilige Album bei den Fans, den Kritikern und nicht zuletzt natürlich an den Ladenkassen gefunden hat. Nach diesem umfangreichen Blick auf die Alben ist Giammetti noch lange nicht am Ende. Es folgt ein zweiter Durchgang unter der fetten Überschrift The Concerts. Hier werden erst Einzelgigs, später Touren minutiös unter die Lupe genommen, Playlists genannt und ihre Veränderung im Lauf der Monate beschrieben. Am Ende steht eine Liste aller Konzerte, die Genesis zwischen den Aufnahmen zweier Alben absolviert haben – mit detaillierten Anmerkungen zu Unsicherheiten, ob bestimmte Auftritte tatsächlich stattgefunden haben, die es insbesondere in den frühen Jahren immer wieder einmal gibt. Drei Kritikpunkte Bevor ich mich auf das stürze, was aus The Peter Gabriel Years (und wahrscheinlich auch dem Folgeband The Phil Collins Years - aber dazu in einer der nächsten Ausgaben mehr) mehr, viel mehr macht als eine Fleißarbeit, möchte ich drei Kleinigkeiten anmerken, die mich bei der Lektüre dann doch immer wieder gestört haben. Zwei der Kritikpunkte beziehen sich auf die erste Seite der LP-Kapitel. In einem farbig unterlegten Band befinden sich in der oberen Hälfte der Doppelseite drei Informationsblocks: zu Beginn die Tracklist, am Ende die Besetzung, dazwischen weitere Credits. Mir ist völlig unverständlich, warum man die Tracklist (anderes als die beiden anderen Info-Blocks) derart unübersichtlich als Fließtext abgedruckt hat. Ich hätte mir hier für jeden Track eine eigene Zeile (icl. Laufzeit) gewünscht. Zweitens – und das ist wesentlich gravierender. Der Band ist durchgehend vierfarbig illustriert: Fotos, Repliken von Eintrittskarten und Flyern, Single-Cover, Plattenlabel und diverses mehr. Warum dann die LP-Cover nirgendwo abgedruckt sind, obwohl das Artwork in einem eigenen Kapitel besprochen wird, ist ebenfalls unerklärlich. Ein Platz, der keinen Platz gekostet hätte, wäre die leere Fläche auf der rechten Seite der Kapitel-Startseite.
Insbesondere bei der Besprechung der frühen Alben werden immer wieder Titel erwähnt, die im Proberaum aufgenommen oder auch live gespielt wurden, die es aber nie auf eine reguläre Veröffentlichung gebracht haben. Manches davon ist wohl auf dem Boxset Archive I – 1967–1975 von 1998 enthalten, das mehrfach erwähnt wird. Hier wäre für mich ein Anhang hilfreich gewesen, der non-Album-Tracks auflistet – mit Hinweis, ob und wo sie dann später doch erschienen sind. Giammettis Ansatz Inwieweit der italienische Genesis-Experte weitere Literatur (Bücher, Artikel, Interviews, …) hinzugezogen hat, verrät er nicht. Aber die beiden Quellen, die er nennt, haben es in sich. Zum einen bedankt er sich bei einem Mike Kaufman für die Erlaubnis dessen Interviews zu nutzen, die „Details enthalten, die sonst nicht ans Licht gekommen wären“. (S. 8) Vor allem aber hat der Autor selbst mit Tony Banks, Steve Hackett und Gründungsgitarrist Anthony Phillips zusammengesessen und sich durch die Alben gehört. So besteht der Text von Genesis 1967 – 1975. The Peter Gabriel Years zu einem nicht unerheblichen Teil aus Kommentaren und Bewertungen der Genesis-Musiker zu den einzelnen Musikstücken. Dabei wird oft akribisch herausgearbeitet, welche Parts von welchem Musiker stammen und wie die Zusammenarbeit zwischen ihnen funktioniert hat. Das gemeinsame Hören der Alben führt dabei dazu, dass die Musiker sich immer wieder an Einzelheiten erinnern, die während ihrer gemeinsamen (oder vor allem bei The Lamb lies down on Broadway getrennten) Arbeit eine Rolle spielten. Es dürfte an den erwähnten Kaufman-Interviews liegen, dass auch Phil Collins, Peter Gabriel und Mike Rutherford ausgiebig zitiert werden können. Vier Dinge arbeitet Giammetti sehr deutlich heraus. Da wäre der immense Einfluss, den Anthony Phillips bis lange nach seinem Ausstieg auf die Musik von Genesis hatte. Sehr gut erkennbar ist auch die Länge, die der Prozess einnahm, durch den die beiden „Neuen“, Steve Hackett und Phil Collins, mit dem originalen „Charterhouse-Trio“ Banks-Rutherford-Gabriel zu einer Einheit verschmolzen. Auch die stilistische und instrumentale Eigenständigkeit der Band war mir so bewusst nicht. Geformt wurde der einzigartige Genesis-Stil durch die Basis der 12-saitigen Gitarren, von denen oft gleich drei (Hackett, bzw. Phillips, Banks, Rutherford) im Einsatz sind. Das prägte dann später wohl auch die Art und Weise, wie Synthesizer eingesetzt wurden. Mindestens bis Selling England by the Pound verstanden sich Genesis eindeutig als europäische, genauer: britische Band, die sich weniger an der Rhythmus-betonten amerikanischen Rockmusik orientiert als an Folk- und Klassik-Traditionen Europas. Fazit: Für Genesis-Fans ist Genesis 1967 – 1975. The Peter Gabriel Years eine unverzichtbare Info-Quelle von einem absoluten Experten, der bereits weit über ein Dutzend Veröffentlichungen über die britische Band und ihre Mitglieder vorgelegt hat, die nur zum Teil auf Englisch erschienen sind. Auch Genesis 1967 – 1975. The Peter Gabriel Years ist ursprünglich 2013 auf Italienisch veröffentlicht worden. Norbert von Fransecky |
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