Kristallene Klarheit trotz gelegentlicher Vernebelung: Zweites Konzert des Schubert-Berwald-Sinfoniezyklus mit dem Gewandhausorchester
Im Alter von 94 Jahren hatte Herbert Blomstedt, Ehrendirigent des Gewandhausorchesters, beschlossen, mit ebenjenem Orchester eine zyklische Aufführung aller Sinfonien von Franz Schubert und Franz Berwald anzusetzen, die auch mitgeschnitten wird. Nach dem ersten Konzert im April 2022 wurde aber auch er daran erinnert, dass er sterblich ist – er brach sich bei einem Sturz ein Bein. Blomstedt wäre freilich nicht Blomstedt, würde er sich von so etwas beirren lassen: Zwar mußten alle geplanten Aktivitäten rings um seinen 95. Geburtstag ausfallen, aber er kämpfte sich zurück, griff im September in Berlin erstmals wieder aktiv ins dirigentische Geschehen ein und leitet nun auch das zweite Konzert des Schubert-Berwald-Zyklus fast so, als wäre nichts gewesen. Zwei Besonderheiten gibt es aber doch: Er kommt nicht mehr ohne Hilfe zum Pult, sondern wird von einer Bratscherin gestützt, bis er das Pult erreicht hat – die dort eingebaute Stufe aber erklimmt er schon wieder selbständig und nimmt die Sitzbank auf dem Pult ein. Am ersten, nicht vom Rezensenten erlebten Konzertabend geht es dann aber noch nicht gleich mit der Musik los, und das ist die zweite Besonderheit: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer zeichnet den Dirigenten mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland aus (Fotos). Eins aber hat sich nicht geändert: Herbert Blomstedt und sein Gewandhausorchester, das ist eine Symbiose spezieller Art, und obwohl nahezu alle Bühnenaktiven genau wissen, was er von ihnen verlangt, weil sie ihn seit Jahren oder gar Jahrzehnten kennen, arbeitet er doch genauso intensiv mit ihnen wie mit einem ihm unbekannten Orchester, und den am hier betrachteten zweiten Konzertabend in der Nähe des Rezensenten sitzenden Musikstudenten fällt auf, dass er das in der eröffnenden 3. Sinfonie D-Dur von Franz Schubert besonders intensiv mit den Bläsern tut – nicht etwa, weil diese schwächeln würden, sondern weil es da ein paar besondere Nuancen herauszukitzeln gilt. Aber schon in der Adagio-maestoso-Eröffnung des ersten Satzes zaubert der Dirigent mit seinen Musikern eine kristallene Klarheit auf die Bühne, die den ganzen Abend nicht wieder verschwinden wird – und wie er den majestätischen Ausdruck mit quasi minimalen Mitteln erzeugt, das verrät den alten Fuchs. Der Hauptteil, ein Allegro con brio, atmet aber ähnlich viel Eleganz, einige Schärfungen werden aus dem Ärmel geschüttelt und die Generalpausen eher betont als überspielt, und wenn in den folkloristischen Anklängen vielleicht doch ein Abgleiten in zuviel Laissez-faire droht, hat Blomstedt schnell alle wieder auf Linie, die letztlich zu einem für Schubert-Verhältnisse relativ monumentalen Satzschluß führt. Das Allegretto mit seinem fast kammermusikalischen Anstrich läßt der Dirigent richtiggehend schwingend spielen, behutsam neue Farben auftupfend – und wenn man denkt, das sei nicht mehr steigerbar, belehrt er uns mit dem Trio über den Pizzikatobässen eines Besseren und zaubert einen superzarten Übergang in die Reprise hin. Witz darstellen kann er aber auch, wie der Satzschluß beweist. Das Menuetto wünschte sich der Komponist als Vivace, und Blomstedt tut gut daran, daraus kein Presto oder gar Prestissimo zu machen: Er schärft den Klang, übertreibt das Tempo nicht, bleibt aber jederzeit im zügigen Bereich. Die Steigerungsformungen gewinnen so an Plastizität, und auch der unprätentiöse Schluß steht damit nicht im Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Er ermöglicht einen ziemlichen Spannungsaufprall zum Finale, einem Presto vivace, das für Schubert-Verhältnisse ziemliches Gebretter enthält. Aber da kommt wieder der alte Fuchs durch: Eleganz und Transparenz bleiben auch mit donnernder Pauke erhalten, und wenn er mit der Rechten die Celli zu mehr Gesäge herausfordert, mit der Linken aber gleichzeitig die ersten Violinen mehr schwingen läßt, dann klingt das in der Schilderung widersprüchlich, ergibt aber doch ein hervorragend funktionierendes Ganzes. Die Dynamikentwicklung hin zum relativ monumentalen Finale könnte in jedem Lehrbuch stehen, und das Ganze wird mit sehr viel Applaus belohnt, wobei der Dirigent hier zwischen den Vorhängen nicht von der Bühne geht und sich auch erst nach dem zweiten Vorhang auf seiner Bank zum Publikum wendet. Franz Berwald hat seine 4. Sinfonie Es-Dur nie gehört – sie erlebte erst 1878 ihre Uraufführung, zehn Jahre nach dem Tod des Komponisten und 33 Jahre nach Fertigstellung der Komposition. Auch in der Folgezeit ist sie wie ihre drei Brüder ein sehr seltener Gast in den mitteleuropäischen Konzerthallen geblieben. Herbert Blomstedt hat sie 1995 einmal im Gewandhaus gespielt, also noch vor seiner Amtszeit als Gewandhauskapellmeister, und nun bestreitet er also auch die hiesige Zweitaufführung, die – man braucht kein Prophet zu sein, um dieser These zumindest gewisse Wahrscheinlichkeit zuzubilligen – für geraume Zeit wohl auch die letzte bleiben wird, falls das Werk nicht unvermutet doch noch zum Hit wird. Immerhin, gewisse Chancen dafür gäbe es schon, denn da trifft ein gewisser Hang zum Kauzigen beim Komponisten auf einen Dirigenten und ein Orchester, die diesen Hang lustvoll und mit Freude am Detail interpretieren. Das geht schon im eröffnenden Allegro risoluto los, dem Berwald keine langsame Einleitung vorangestellt hat, sondern gleich in die Vollen geht, aber das auf etwas eigentümliche Weise, der Blomstedt und das Gewandhausorchester mit einem etwas vernebelt wirkenden Klangcharakter begegnen, was der angesprochenen kristallnen Klarheit trotzdem nicht widerspricht. Die Posaunen (besetzt sind deren drei, aber kein Tubist) dürfen in der ganzen Sinfonie immer mal richtig knarzen, bisweilen auch jenseits der Hauptbetonung, was trotzdem ebensowenig bemüht wirkt wie der Folk-Touch, den das Holz gelegentlich einbringt. Lieblichkeit kommt aus dem Seitengedanken, aber nicht zu viel – da ist der leicht unheilschwangere Teppich der Kontrabässe vor. Blomstedt läßt Schärfe erzeugen, wenn’s nötig ist, und baut gekonnt Bombasttürme zum scheinbaren Finale auf, ehe Berwald den Satz statt dessen ausplätschern läßt. Der Hit der Sinfonie ist das Adagio, mit einem weit ausladenden Thema nordischer Klangfarbigkeit punktend, das eine sehr weit gespannte Linie erfordert – kein Problem für Blomstedt und sein Orchester, ebensowenig wie die „staatstragenden“ Momente im Tutti. Eleganz bleibt auch hier kein Fremdwort, in den Themendurchgängen sorgen verschiedene Instrumentengewichtungen für Interesse, und als der „staatstragende“ Moment nochmal wiederkehrt, glaubt man das Satzfinale erreicht zu haben, ehe auch dieser Satz wieder ausplätschert. Das Scherzo, ein Allegro molto, hängt attacca an, huscht irrlichternd umher, bevor Blomstedt zu stärkerer Kontrastbetonung übergeht und das Tempo weiter zügig hält. Das Trio hingegen nimmt das vorweg, was man anderthalb Jahrhunderte später im Hardcore einen Breakdown zu nennen begann, und die Reprise gleicht stimmungsmäßig dem ersten Teil, plätschert aber nicht aus, sondern hat einen scharfen Schluß. Das Programmheft beschreibt den Finalsatz, ein Allegro vivace, als ungewöhnlichsten Satz nicht nur dieser Sinfonie, sondern des ganzen Konzertabends, was anhand des zuvor Gehörten schon eine gewisse Erwartungshaltung erzeugt. Die Pause zum Scherzo ist knapp bemessen, aber der Kontrast fällt gar nicht so heftig aus, da es dort ja wie erwähnt einen geschärften Schluß gab und zudem Berwald ins Finale mit überschaubarer Energiefreisetzung startet – vielmehr kommt hier bald wieder der irrlichternde Charakter zutage, diesmal freilich mit Posaunengeknarz garniert, das Blomstedt ganz explizit betont haben möchte, wie seiner Zeichengebung zu entnehmen ist. Das Panoptikum der Seltsamkeiten geht aber noch weiter: Da fliegen Einzeltöne zwischen den Instrumentengattungen hin und her, da wird eine brillante Choralauflösung (Flöte über Pizzikatostreicher) ebenso brillant ironisch gebrochen, und der speedige Schluß wird immer schneller, bevor aber auch hier keine ganz große Klimax dranhängt, sondern die letzten Phrasen eher kompakt anmuten. Lauter Jubel belohnt die Beteiligten, fast der ganze Saal steht, und Herbert Blomstedt gönnt sich diesmal sogar einen Vorhang in althergebrachter Form, also dass er die Bühne verläßt und nochmal wiederkommt. Wenn die 2. und die 3. Sinfonie Berwalds, die im Zyklus nun noch ausstehen, ähnlich einfallsreich sind, darf man sich auf die für 2023 geplanten Konzerte sehr freuen, und es würde einen nicht wundern, wenn Blomstedt dann wieder mit alter physischer Energie ohne Hilfe auf die Bühne kommt – an Energie fürs Dirigat mangelt es ihm jedenfalls definitiv nicht, wie dieser Abend ein weiteres Mal unter Beweis stellt. Roland Ludwig |
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