Neidvoll schaute bzw. lauschte ich in diesen Tagen nach Frankreich, wo Anfang November in der Oper der Stadt Lille und später auch in der Pariser Philharmonie erneut eine Oper von Karlheinz Stockhausen aufgeführt wurde: Freitag aus Licht, ein Werk, das seit seiner Premiere an der Oper Leipzig 1996 nicht mehr auf die Bühne gebracht wurde. Dirigent Maxime Pascal und die Musiker:innen von „Le Balcon“ haben damit inzwischen die vierte Oper der deutschen Nachkriegs-Avantgarde-Ikone aufgeführt, drei weitere sollen in den kommenden Jahren folgen, dann ist der ganze legendäre Licht-Zyklus aus einer Hand komplett – es geht offenbar, wenn man nur will.
Wieso schaffen wir das hierzulande eigentlich nicht? Das Land mit der weltweit höchsten Dichte an Opernhäusern und Sinfonieorchestern, inklusive diverser Neue-Musik-Spezialist:innen, drückt und windet sich, sobald es zum Stockhausen-Schwur kommt. Zuletzt gab es Sonntag aus Licht in der Kölner Oper, immerhin als Weltpremiere. Das ist inzwischen aber auch schon wieder zwölf Jahr her … 2013 der Samstag in München, zwar nur quasi-konzertant und über mehrere Konzerte verteilt - aber immerhin!
Immer noch scheint weniger der erhebliche technisch-musikalische Aufwand als der transzendentale Anspruch des Komponisten das Problem zu sein. Die spirituelle Botschaft, die in Stockhausens Werk seit den 1960er Jahren immer mehr in Vordergrund getreten ist, umgibt einen großen Teil seines Oeuvres wie ein Feuerring, den weder die Intendanzen noch Regisseur:innen des Musiktheaterbetriebs zu durchschreiten wagen. Zu esoterisch! Sektiererisch gar! Um es mit Helmut Schmidt zu sagen: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!"
Geradezu erleichtert reagierten die Feuilletons, als Regisseurin Lydia Steier 2016 in Basel Donnerstag aus Licht als freudsches Psychodrama inszenierte. Der Musikguru Stockhausen wurde entmystifiziert und durch das Regietheater vom Sirius auf den Boden der traumatischen irdischen Tatsachen geholt! Also: Wenn man das möchte, geht auch dies.
2019 zeigte man in Amsterdam große Teile von Licht – relativ werkgetreu, weitgehend ohne nachträgliche Psychologisierungen und in einem futuristischen LED-Look in einem alten Gasometer. Das Ganze wurde zudem weitgehend von Musikstudent:innen einstudiert und hervorragend realisiert, im Rahmen eines Masterstudiengangs. Auch das kann ein Weg sein.
Die Freitag-Oper wirkt ja oft wie ein psychedelisches Happening mit viel dunkellockendem Eros und noch mehr handfestem Sexus, zumindest bei den erwachsenen Figuren, die Engel oder auch Wesen aus einem anderen Universum sein könnten und ihre Beziehungen durcheinanderbringen. Immerhin geht es um das Thema Verführung und Versuchung und die Umkremplung der Evolution durch luziferische Einflüsse! Dazu bevölkern Kinderorchester und -chöre die Bühne und stellen allerlei Fantastisches an, singen und musizieren miteinander oder bekriegen sich. Dazwischen hat Stockhausen in Form von transrealen Tonszenen die pantomimischen Paarungsrituale von Menschen, Tieren, Maschinen und Instrumenten einmontiert, wobei fortgesetzter Partnertausch hybride Nachkommen der seltsamsten Art erzeugt.
In den hypnotischen elektronischen Klangfludien, die an die Stelle des traditionelle Sinfonieorchesters getreten sind, ist Stockhausen der von ihm ansonsten geschmähten Fin-de-Siècle-Atmosphäre der Spätromantik auf seltsame Weise nahe gekommen – so als habe er Tristan und Isolde und Pelléas et Mélisande in seinem Studio durch die Filter geschickt.
Ohne Zweifel: Ein Visionär, dessen Originalität und Querständigkeit man schmerzlich vermisst. Worüber soll man sich heute denn noch aufregen? Etwa über die Flachheiten, die aktuell als „neue Klassik“ vermarktet werden und die nur dann stören, wenn man wirklich mal genauer hinhört?
Dass selbst so ein eigenartiges und um politische Korrektheit unbesorgtes Werk wie Freitag aus Licht von Regisseurin Silvia Costa in Lille offenbar respektvoll befragt werden konnte, ohne es gleich komplett umzuschreiben, zeigt erneut, dass viele Wege zu Stockhausen führen können.
Vielleicht muss man in Deutschland aber noch ganz andere (Um)Wege gehen: Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker hat Stockhausens Musik 1989 kennengelernt, da war er zwölf Jahre alt. Er wurde zum glühenden Fan, lernte sein Idol kennen, eine Freundschaft entwickelte sich, die über Nähe und Distanz hinweg bis zu Stockhausens Tod 2007 währte. Mit dem Zeichner David von Bassewitz hat von Steinaecker über seine Zeit mit Stockhausen in siebenjähriger Arbeit den ersten Teil einer grandiosen Graphic Novel kreiert, die sich für Neugierige und Irritierte gleichermaßen eignet: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam. Vielleicht gelingt es diesem Buch mehr als jedem Fachartikel, eine Brücke in Stockhausens „astronische“ Klangwelten zu schlagen, über die dann auch die Abgeneigten und Verächter gehen mögen.
Brücken in unterschiedliche musikalische Welten schlagen in unserer neuen Ausgabe auch diverse Konzertberichte, so zum Songwriter und Gitarristen Russ Ballard oder dem zwar bejahrten, musikalisch aber noch topfitten Trio Hundred Seventy Split.
In klassische Gefilde entführen die ausführlichen Reporte zu Aufführungen von Schostakowitsch und Ustwolskaja, de Falla, Ravel und Mahler im Leipziger Gewandhaus und der Stadthalle in Chemnitz.
Die Rock-Band Brunhilde steht im Interview Rede und Antwort zu ihrem neuen Album Twenty-Seven.
Norberts Kolumne wirft einen Blick auf die Gothic-Christen Necromance während Ingo sein Lieblingslied der Ramones neu interpretiert.
Georg Henkel