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Zeit: 28.04.2022
Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal
Fotograf: Jan Ainali (Wikimedia Commons)
Internet:
http://www.gewandhausorchester.de
Der Mann hat die Ruhe weg – und Gottvertrauen noch dazu. Herbert Blomstedt, von 1998 bis 2005 Gewandhauskapellmeister und seither Ehrendirigent des Gewandhausorchesters, sieht seinem 95. Geburtstag im Juli 2022 entgegen, und er hat nichts „Besseres“ zu tun, als mit diesem „seinem“ Orchester einen neuen, auch für Tonkonserve aufgezeichneten Konzertzyklus zu beginnen, der alle Sinfonien von Franz Schubert und von Franz Berwald umfassen wird. Von letzteren gibt es vier, und so viele Konzerte sind auch anberaumt – die anderen Schubert-Sinfonien werden in andere Konzertkontexte eingebettet bzw. sind schon „im Kasten“. In den Konzerten der letzten Aprilwoche erklingen jeweils die Sinfonien mit der Ordnungszahl 1. Dass die Leipziger ihren Herbert Blomstedt nach wie vor immens lieben, beweist der enorm intensive Auftrittsapplaus, als der Noch-94-Jährige die Bühne betritt, immer noch relativ zügigen Schrittes und ohne Zuhilfenahme eines Stocks oder anderer Hilfsmittel. Dass die Vorschußlorbeeren gerechtfertigt sein werden, bezweifelt niemand im weiten Rund, und das tritt denn auch ein.
Franz Schuberts Sinfonie Nr. 1 D-Dur D 82 entstand noch zu seinen Zeiten als Schüler im Wiener Stadtkonvikt, aber der 16-Jährige zeigt sich schon hier den Herausforderungen der Gattung durchaus gewachsen. Zwei Trompeten, zwei Hörner, einen Pauker und sieben Holzbläser bietet er neben den Streichern auf, also einen eher übersichtlichen Apparat, der aber auch erstmal beherrscht und in Form gegossen werden will, was der jugendliche Komponist mit interessanten Einfällen und ein paar kleinen Absonderlichkeiten realisiert. Blomstedt nimmt die Adagio-Einleitung zunächst recht kantig, bevor er mehr Lieblichkeit dagegensetzt und einen herrlich unaufgeregten Übergang in den Allegro-Hauptteil zaubert. Auch in dem darf die Pauke durchaus für einige Schroffheit sorgen, fällt aber nie aus dem großen Rahmen, und ein bißchen Unordnung in den Bläsern ist schnell beseitigt. Viele Teile des Allegros läßt Blomstedt eine wunderbare Gesanglichkeit atmen, einige Mollabgleitungen gelingen äußerst stimmungsvoll, der Flow bleibt stets erhalten, und hübsche Holzkammermusik leitet über zur marschartigen Reprise, die aber auch ein gewisses Maß an Grundeleganz nicht unterschreitet. Einige bläserische Absonderlichkeiten führen zum relativ energischen Ausklang hin.
Die völlige Unaufgeregtheit bleibt auch im Andante erhalten. Blomstedt fordert von den Musikern große Bögen und bekommt sie auch, das Tempo hält er weit unten bis in die Nähe zum Stillstand, und den Mix aus Witz und tragischen Anklängen im Finale so stimmig zu realisieren schaffen auch nur große Könner.
Das Menuetto, ein Allegro, nimmt der Dirigent völlig unironisch tanzbar, recht betont schreitend, aber einige lockere Dialoge nicht außen vor lassend. Richtig interessant wird es im Trio: Grundsätzlich eher gemütlich daherkommend, lauern doch einige Abgründe, die Blomstedt zielsicher aufspürt, den Klang gestisch auseinanderzieht und bis in sinistre Welten führt. In der Reprise läßt er die Laut-Leise-Dynamik deutlich stärker hervortreten als im ersten Teil – schon eine Vorschau auf den vierten Satz?
Der, ein Allegro vivace, fällt nämlich sehr dynamikbetont aus und kommt in enormem Tempo daher, aber dem Dirigenten reicht es hier und da immer noch nicht, sondern er fordert mit sägenden Bewegungen phasenweise noch mehr Schärfe aus den Streichern und bekommt sie auch, als wirkungsvollen Konstrast zum Seitenthema mit seinem Mix aus Lieblichkeit und Witz. Eine Fermate läßt der Dirigent betont ausspielen, ansonsten setzt er wieder auf Flow und hält das Energielevel bis zum Finale weit oben. Sofortiger und reichlicher Applaus belohnt ihn und sein Gewandhausorchester.
Damit ist der Schubert-Block des Abends aber noch nicht vorbei, denn es folgt noch das Rondo A-Dur D 438 in der Fassung für Solovioline und Streichorchester, in der das Werk im Gewandhaus-Kontext noch nie gespielt worden ist – es gab bisher nur eine einzige Aufführung, und da erklang 1984 die Fassung für Solovioline und Streichquartett. Auch das Streichorchester ist sehr übersichtlich besetzt, so dass dem ganzen Werk ein grundsätzlicher kammermusikalischer Touch innewohnt. Das Adagio nimmt zunächst vorsichtig tastende Züge an, lange ohne den Solisten Sebastian Breuninger, der dann diesen Gestus beizubehalten hat, nur gelegentlich kontrastiert durch einige energischere Passagen über grundtönigen Akkorden. Schubert läßt den Adagio-Gedanken lange ausformulieren, aber dann darf Breuninger doch in den Allegro-giusto-Hauptteil führen, der den unsicher-tastenden Gestus indes zunächst fortsetzt, zunächst noch recht tempovariabel, sich dann aber auf eins fokussierend. Die Orchesterbegleitung bleibt lange extrem behutsam, die Feinabstimmung funktioniert über weite Strecken exzellent, auch die Klangtransparenz bietet keinerlei Probleme. Breuninger atmet eine herrlich uneitle Virtuosität, selbst wenn er wild mit dem Kopf zuckt, spielt oft sehr gesanglich und liefert eine gerade durch ihre unprätentiöse Art beeindruckende Kadenz. Ein hübscher mehrteiliger Schluß liefert etwas mehr Energie, bleibt aber auch unaufgeregt wie die ganze Viertelstunde Musik, deren Feinheiten man gerade durch diese Unaufgeregtheit intensiv studieren konnte (brillante winzige Tempoverharrungen in den kurzen Mollanklängen!), auch wenn das sicherlich nicht die hundertprozentig passende Musik für einen riesigen Konzertsaal ist – da scheint der kammermusikalische Gestus doch zu klar durch. Aber das Stück gefällt, und Breuninger legt noch eine Zugabe nach, allerdings nicht allein, sondern im Verbund mit seinem Konzertmeisterkollegen Henrik Hochschild. Die beiden leiten thematisch gleich zum zweiten Teil des Abends über, denn sie spielen einen Teil des Andante con variazioni aus dem Duo concertante A-Dur für zwei Violinen von Franz Berwald, das dessen Tonsprache schon relativ klar darstellt: nordischer Tonfall, aber eingängige Melodik, garniert mit ein paar Schroffheiten.
Als der Schwede Franz Berwald seine 1. Sinfonie g-Moll („Sérieuse“) schrieb, war Schubert schon anderthalb Jahrzehnte tot, obwohl die beiden Komponisten mit nur wenigen Monaten Abstand geboren worden waren. Dass die Musikwelt 1843 schon eine deutlich andere war als die von 1813, hört man dem Werk jedenfalls an, von der bisweilen etwas eigenwilligen Tonsprache Berwalds mal ganz abgesehen. Nordische Einflüsse waren in Mitteleuropa seinerzeit en vogue, aber während der damalige Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy den Dänen Niels Wilhelm Gade maßgeblich förderte, konnte er mit Berwalds Schaffen überhaupt nichts anfangen. Letzteres ins Gewandhaus einzuführen blieb Berwalds Landsmann Herbert Blomstedt vorbehalten, der neben anderen Komponisten seiner Heimat wie Wilhelm Stenhammar auch Berwald dem Leipziger Publikum vorstellte und, obwohl oder gerade weil er dabei keinen Nachfolger gefunden hat (Riccardo Chailly und Andris Nelsons setzten bzw. setzen andere Prioritäten), das nun wieder einmal tut. Die 30 Jahre zwischen den beiden Sinfonien dieses Abends werden schon allein durch die viel voluminösere Orchestergröße bei Berwald deutlich, aber auch das eröffnende Allegro con energico macht schnell klar, dass hier ein anderer Hase durchs Unterholz läuft. Blomstedt nimmt die Einleitung sehr flott, das förmlich vibrierende Holz kommt trotzdem völlig klar rüber, aber die Tutti geraten anfangs doch ein wenig zu massebetont. Der Meister am Pult schafft es indes, die Transparenz aus dem lieblichen Seitenthema in die folgenden Tutti hinüberzuretten, und ab da bleibt diesbezüglich kein Wunsch mehr offen. Das ist auch wichtig, denn trotz interessanter dynamischer Einfälle passiert entwicklungstechnisch in der Tat eher wenig, also muß der Dirigent eher auf die Gestaltung der Einzelelemente setzen. Das tut er gern, und sein Gewandhausorchester folgt ihm willig, ob das nun die markant feuernden Trompeten oder die späteren Tutti angeht, die nichts mehr mit unaufgeregter Gestaltung zu tun haben, von Blomstedt teils aber stark in die Breite gezogen werden. In den molldurchschienenen Einschüben lauern einige Abgründe, und da es eher wenige Brüche gibt, kostet der Dirigent diese umso lustvoller aus, demonstriert aber auch, dass die Tugend aus dem Ärmel geschüttelter Übergänge gleichfalls vital ist, wie das Satzfinale zeigt.
Das Adagio maestoso an zweiter Position ist anfangs groß gedacht, aber eher mittelgroß gemacht, was Blomstedt mit einer betörenden Intensität in den über einem Pianissimo-Paukenteppich liegenden Streicherflächen kompensiert. Er laviert in der Folge gekonnt durch den Mix aus choralartigen Entwicklungen und aufschreckenden Tutti mit Paukengedonner und bekommt eine erstklassige Entwicklung von den Pizzikati zum letzten großen Ausbruch hin, der aber ein Strohfeuer bleibt und einer unprätentiösen Finalgestaltung Platz machen muß.
Das Scherzo nennt sich hier Stretto, und der Dirigent läßt es munter fließen. Aufschreckungen bleiben rar, es passiert eher wenig, aber das, was passiert, das nimmt Blomstedt mit Gefühl für Feinjustierung, und dazu treten auch wieder solche betörend-eindringlichen Streicherflächen über Pianissimo-Paukenteppichen, wie man sie aus dem Adagio bereits kennt. Überraschung: Das Trio verzichtet weitestgehend auf eine Kontrastwirkung.
Das Finale hängt attacca an: kurzes Suchen im Adagio, dann entspinnen sich feist-dynamische Tutti mit viel Sinn für Dramatik, aber wenig Flow, sondern eher betonter blockhafter Struktur. Sägeeinwürfe aus den 1. Violinen und später den Kontrabässen machen ebenso Hörspaß wie die Anflüge von Monumentalität, die dann sogar mal ausgespielt wird. Später entwickelt der Satz trotz einiger Generalpausen mehr Flow und legt einige Energie in den Scheinschluß, in den die Posaunen gekonnt choralartig reingrätschen. Diese Eigentümlichkeiten verwirren das Publikum offensichtlich etwas, so dass auch der Applaus anfangs verwirrt anmutet, aber bald mit der gewohnten Herzlichkeit erschallt, wobei Blomstedt nachdrücklich auf die Partitur klopft und so mancher Hörer, der die (nicht als Zyklus konzipiert gewesenen) Aufführungen vor 20 Jahren nicht miterlebt hat, gespannt auf das sein wird, was in den weiteren Konzerten des Zyklus noch folgen wird. Das könnte freilich auch auf manchen Hörer zutreffen, der damals schon dabei war: Berwalds 2. Sinfonie ist im Gegensatz zu den drei anderen nämlich bisher überhaupt noch nie im Gewandhaus erklungen.
Roland Ludwig
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