Mitja XI: Das Gewandhausorchester koppelt Schostakowitschs Vierte mit fast zur selben Zeit uraufgeführten Werken von Ustwolskaja und Hartmann
Das Sprichwort vom Landwirt, der ihm unbekannte Speisen konsequent verschmäht, trifft in gewisser Abwandlung auch auf den Konzertbesucher zu. Den Beweis dafür tritt das hier rezensierte Gewandhauskonzert an, bei dem zumindest am ersten Abend doch eine erkleckliche Anzahl von Plätzen verwaist bleibt: Das Programm besteht aus drei Werken, die allesamt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dort im Zeitraum von nur fünf Jahren, von 1959 bis 1964, uraufgeführt wurden, und abgesehen von Dmitri Schostakowitsch hört man von den Komponisten im heutigen Konzertbetrieb eher selten. Die Zeiten, als eine Aufführung von Schostakowitschs Vierter subversives Potential entfaltete und daher für volle Säle sorgte, sind offensichtlich vorbei, was die Musik per se freilich nicht uninteressanter macht. Mit Ingo Metzmacher steht ein Mann am Pult des Gewandhausorchesters, der letztmalig 2004 hier zu erleben war und der ausgewiesene Spezialist für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist, also ein gutes Händchen für das anstehende Repertoire hat, hofft man – und die Hoffnung erfüllt sich, das schon mal vorab. Galina Ustwolskaja war Schostakowitschs Schülerin, und es gibt Gerüchte, dass ihre Beziehung enger war als offiziell bekannt. Das Sinfonische Poem Nr. 2, uraufgeführt in Leningrad anno 1959 unter dem später wieder gestrichenen Titel „Sieg eines Helden“, erlebt an diesem Abend seine Erstaufführung im Gewandhauskonzert und soll eines ihrer zugänglichsten Stücke sein, was der Rezensent weder bestätigen noch dementieren kann, da es auch für ihn der Erstkontakt mit der Musik der 2006 verstorbenen eigensinnigen Russin ist, die stets beteuerte, von keinerlei anderer Musik beeinflußt zu sein. Nach den zehn Minuten des Sinfonischen Poems ist man geneigt, diese Aussage in gewisser Weise zu relativieren, hebt das Werk doch gleich mit imitierten Fernhornklängen an, wie sie Gustav Mahler nicht treffsicherer hätte erdenken können. Das nocturne-artige Bild mündet in ein großes Streicher-Unisono und blickt bald in die ersten Abgründe, die Schostakowitsch auch nicht wesentlich anders gestaltet hätte und hat. Ihren Lehrer kopiert Ustwolskaja freilich nicht blindlings – die sinistren Ambient-Anklänge kommen aus einer anderen Richtung, das finstere Tiefstreichergesäge (von dem der Rezensent diesmal mehr hat als sonst, da er an diesem Abend auf der Seite der Kontrabässe sitzt) auch und der Totenmarsch gleichfalls – der blickt stimmungsseitig gar auf das voraus, was ein paar Jahre später im Doom Metal erzeugt wird. Aber der schostakowitschige Lärm bleibt nie fern, wobei wir hier freilich eine Art gut gelaunten Schostakowitsch hören, was ja bekanntlich ziemlichen Seltenheitswert hatte. Der wiederkehrende sinistre Ambient mündet in liebliche Klänge ohne jegliche Ironie, am Ende herrscht Frieden, die Spannung steht auch, und der Applaus liegt zumindest ein kleines Stück über der reinen Freundlichkeitsgeste. Karl Amadeus Hartmann konnte seine Gesangsszene für Bariton und Orchester nicht mehr vollenden, aber er war fast fertig, und eine aufführungsreife Fassung liegt vor, aus der Taufe gehoben anno 1964 vom Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, der auch den Kompositionsauftrag erteilt hatte. Herbert Blomstedt hatte vor zwei Dekaden die bisher einzige Aufführung des Werkes mit dem Gewandhausorchester geleitet. Nun also Metzmacher, der zunächst vor der Aufgabe steht, fünf Minuten Orchestereinleitung zu gestalten, in der ein eigentümliches Flötensolo in überwiegend sinistre und eher ungeordnete Klanglandschaften jenseits aller gängigen Dynamikprinzipien mündet. Dann greift Matthias Goerne (Fotos) ins Geschehen ein, der den Text, einen Auszug aus der Dystopie „Sodom und Gomorrha“ von Jean Giraudoux, im Stile des Evangelisten einer Bachschen Passion zu interpretieren hat, freilich auch er jenseits gängiger tonaler Vorstellungen. Oft legt Hartmann unter die Worte nur einen ganz dünnen Orchesterteppich oder auch mal gar keinen, kontrastiert die Gesangspassagen dann aber mit Orchesterschlägen unterschiedlicher Heftigkeit. Intensivere Verschränkungen des Sängers und des Orchesters gibt es erst ab Absatz 4 („Das ist nicht das Schlimmste!“), wobei sich Goerne bedarfsweise stimmgewaltig Gehör verschafft, wenngleich an einigen Stellen auf Kosten der Textverständlichkeit – aber man kann ja im Programmheft mitlesen. Schrittweise kommt eine Art Sarkasmus auf, gleichzeitig aber beweist der Komponist, dass er tatsächlich einen Sinn für traditionelle Formen der dramatischen Gestaltung hat, gipfelnd in den „Übel“-Worten und im Shouting bei „Wahnsinnigen“, wo der Sänger freilich gegen das Orchester kaum eine Chance hat. Dafür entschädigt aber die exzellent komponierte wie gespielte Klangkatastrophe, aus der wieder das einleitende Flötenthema erwächst – und plötzlich beginnt man schrittweise auch bestimmte Elemente aus der Orchestereinleitung zu verstehen, wenn man sie hier in einem anderen Kontext wiederentdeckt, und das Gesamtwerk offenbart seinen Plan. Die finalen Worte der 1942 geschriebenen, aber erstaunlich zeitlosen Dystopie singt Goerne nicht, sondern spricht sie a cappella, und es entsteht nach seinem letzten Wort eine lange Pause, ehe sich etwas verwirrt anmutender Applaus entwickelt – der Text ist halt schwer verdaulicher Tobak, die Musik partiell nicht minder. Mit Mühe kommen die üblichen drei Vorhänge zusammen, und eine Solistenzugabe bleibt naturgemäß aus – was hätte selbst ein ausgewiesener Könner wie Goerne danach auch zugeben sollen? Dmitri Schostakowitschs 4. Sinfonie c-Moll op. 63 hatte Jahrzehnte in der Schublade zugebracht – wäre sie im Klima des Jahres 1936 wie geplant uraufgeführt worden, hätte sie den Komponisten wohl den Kopf gekostet, und so erblickte sie erst 1961 das Licht der Welt, nur um alsbald wieder in den Hintergrund zu treten: zu unbequem, zu sperrig, zu groß besetzt und in politischer Hinsicht völlig unnütz. Dass es sich trotzdem oder gerade deswegen um großartige Musik handelt, wissen die Liebhaber natürlich seit langem und freuen sich über jede Gelegenheit, das riesige Werk einmal live erleben zu können. Der Rezensent hat es anno 2011 in einer kongenialen Aufführung mit der Sächsischen Staatskapelle unter Vladimir Jurowski gehört und anno 2020 unter Pandemiebedingungen mit der Robert-Schumann-Philharmonie, erlebt es nun also zum dritten Mal auf der Bühne – und im Gewandhaus ist es bisher ein sehr seltener Gast geblieben: Kurt Masur hatte 1976 eine Aufführung im Rahmen seines Schostakowitsch-Zyklus bestritten, 2002 war es unter Daniel Harding erklungen, so dass Ingo Metzmacher nun also die Drittaufführung für sich verbuchen kann. Dass er diese Musik versteht und das Gewandhausorchester das auch tut, so dass sich eine erfreuliche Symbiose ergibt, das wird schon in den ersten Minuten, ja Sekunden des eröffnenden Allegretto poco moderato deutlich: Hochspannung kommt aus dem Nichts, der Dirigent wütet auf seinem Podest und zerrt portionsweise Hochfrequenzenergie aus dem Orchester, freut sich über kompetente Zusammenbrüche des Klangs, bekommt die für Schostakowitsch typischen doppelbödigen Zirkuselemente aus dem Fagott geliefert, blickt vorsichtig in Abgründe, schafft es vom Schwelgerischen zum Inferno in 10 Sekunden (mit Plan wohlgemerkt) und führt die dem Mahler-Kuckuck vorangehende Celesta an die Ätherikgrenze der Unhörbarkeit. Die souveränen Holzsoli kann er fast undirigiert laufen lassen, so sehr überzeugen die Musiker – die Streicherkollegen wollen da nicht nachstehen: Schostakowitsch hat ihnen extreme Highspeedpassagen verordnet, Metzmacher führt diese bis an die spieltechnische Grenze, auch das Tutti danach ist intensitätsseitig kaum überbietbar. Der Kuckuck blinzelt später auch traumverloren aus der Konzertmeistervioline, die Mahler-Anklänge sind deutlich, werden aber nicht explizit hervorgehoben (vom Kuckuck abgesehen), und was die große Trommel mit trockenem (und gar nicht lautem) Klopfen für eine Stimmung erzeugt, das ist in einer exzellenten Aufführung wie dieser nur mit den schon vor mehr als zehn Jahren gewählten Formulierungen beschreibbar: Man schaut sich unwillkürlich um, ob nicht irgendwo ein unheildrohender georgischer Schnauzbart hereinlugt. Auch den kleinteiligen spannenden Satzschluß bekommt Metzmacher so wie gewünscht serviert – mit Energieabbau ist hier nix, darf auch nix sein. Der zweite, kurze Satz, Moderato con moto, fordert Dirigent und Orchester zu scheinbar zielloser Kammermusik heraus, die gezielt immer wieder Störungen unterliegt, wobei Metzmacher aber auch den gelegentlichen Humor gekonnt herausarbeiten läßt. Der perlende Fluß im großen Holzsolo geht im Verein mit dem anschließenden Schlagwerksolo fast als witziger Hit durch – der Komponist war schon 1936 vielseitig bewandert bzw. mußte das als ehemaliger Stummfilmpianist auch sein. Der dritte und letzte Satz schielt in der Largo-Einleitung wieder zu Mahlers Erster hinüber, diesmal zu deren drittem Satz, aber in einer gestörten Fassung. Die Schizophrenie, die den ganzen, abermals riesig dimensionierten Satz (der Hauptteil ein Allegro) prägt, setzt Metzmacher erstklassig in Szene. Zerklüftung mit Anleihen von Flow? Klar, kein Problem. Andeutungen eines Triumphes? Natürlich, aber eben bewußt nicht mehr als das. Streicherwiesen zum Reinlegen? Vorhanden, wenngleich nicht ausgedehnt. Lehrbuchreife Intensitätssteigerungen über mehrere Minuten? Das Lehrbuch wird an diesem Abend neu geschrieben. Absurde Fagotte über Offbeats aus den Kontrabässen? Der Walzer danach gelingt noch absurder. Einen einzigen Moment des strategischen Unglücks gibt es in dieser Aufführung: In den letzten Sommerpausen ist bekanntlich die Bühnenakustik des Großen Saales überarbeitet worden, was dazu geführt hat, dass sich die Musiker untereinander besser hören, aber paradoxerweise auch dazu, dass man bestimmte Geräusche auf der Bühne jetzt auch im Publikum viel stärker hört. In der Überleitung zum finalen Scheintriumph müssen die Kontrabässe einen drohenden Teppich ausrollen und dann alle gemeinsam schnell blättern – und das Blättergeräusch sorgt dort für ungeplante Unruhe. Für so ein Problem würden andere Orchester freilich all ihre Familienmitglieder versetzen, und der pseudo-staatstragende Charakter des Triumphparts kommt genau so zum Vorschein, wie Komponist und Dirigent das offensichtlich wollten. Das Blech stört den Triumphcharakter gekonnt, und das mehrminütige Verebben meistert Metzmacher in Tateinheit mit den Musikern ähnlich kongenial wie die Stunde Musik zuvor. Dass der Dirigent die Spannung nach dem Verschwinden des letzten Tons im Äther nur kurz hält oder halten kann (oder will) – geschenkt (ein Huster ist natürlich mal wieder zu ungünstigem Zeitpunkt aktiv, wenngleich nur ein schwacher). Sehr viel Applaus und etliche Bravi sind der Lohn für eine absolute Spitzenleistung, und die Addition Klassewerk plus Klasseorchester plus Klassedirigent ergibt an diesem Abend etwas, das viel, viel größer ist als die Summe der Teile. Roland Ludwig |
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