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Reviews

Flood

Polarized


Info

Musikrichtung: Power Metal

VÖ: 01.01.2022

(Acidify)

Gesamtspielzeit: 57:34

Internet:

http://www.floodofficial.com

Sänger Guy Ritter hatte Tourniquet bekanntlich unmittelbar nach dem Drittling Pathogenic Ocular Dissonance anno 1992 verlassen, Gitarrist Gary Lenaire folgte ihm einige Jahre später. Beide taten sich umgehend wieder zusammen und gründeten eine neue Band namens Echo Hollow, mit der sie zwei Alben herausbrachten, von denen der Rezensent nur das erste, Diet Of Worms betitelte besitzt, das erstaunlicherweise nicht so sehr nach den alten Tourniquet klingt, wie das so mancher vielleicht im stillen erhofft hatte, sondern eher nach den damals moderneren Tourniquet, gar nicht so weit vom Vanishing Lessons-Album entfernt (auf dem Lenaire noch mitwirkte), aber noch etwas mehr in Richtung der weiland als angesagt geltenden modernen Rockmusik tendierend. So richtig vorwärts kamen die beiden damit indes nicht, und so zerfiel die Band wieder. Lenaire fiel für einige Jahre sogar vom Glauben ab, fand ihn aber wieder und kehrte auch musikalisch auf einen Pfad zurück, der so manchen Anhänger der alten Tourniquet voller Vorfreude im Dreieck springen ließ.
Was war passiert? Nun, zum ersten hatten Ritter und Lenaire abermals wieder zusammengefunden, und geplant war zunächst ein Soloalbum Lenaires unter Beteiligung von Ritter und auch dessen Quasi-Nachfolger bei Tourniquet, Luke Easter. Zum zweiten stieß aber mit Gitarrist Erik Mendez noch ein weiteres einstiges Mitglied der klassischen Tourniquet-Phase dazu. Die Frage, wer Ted Kirkpatricks Platz einnehmen könnte (der Drummer lebte zu diesem Zeitpunkt noch, aber eine neuerliche Zusammenarbeit mit ihm dürfte niemand ernsthaft in Erwägung gezogen haben), wurde mit David Husvik beantwortet, der bei Extol schon vor Jahrzehnten bewiesen hatte, dass er quasi alles spielen kann, was gebraucht wird. Zu guter Letzt stieß mit Anna Sentina eine der angesagtesten Bassistinnen der US-Westküste dazu, technisch eine erstklassige Wahl (und nebenbei bemerkt auch optisch), während wiederum Easter von Bord ging. Das entstandene, nunmehr fünfköpfige Dreamteam nannte sich Flood, offensichtlich nicht auf dem Schirm habend, dass seit zwei Jahrzehnten schon eine tschechische Kapelle unter diesem Namen agiert, und spielte sein Debütalbum Polarized ein. Die alles entscheidende Frage ist nun, ob die mit der Besetzung automatisch assoziierten Vorschußlorbeeren gerechtfertigt sind.
Die Antwort ist ein klares und unmißverständliches Ja. Polarized ist zum einen das beste dem Rezensenten bekannte (Quasi-)Tourniquet-Album seit Microscopic View Of A Telescopic Realm und hätte zum anderen stilistisch auch Nachfolger von Stop The Bleeding oder Psycho Surgery werden können – nicht von Pathogenic Ocular Dissonance, denn den dort eingeschlagenen, teils ultraprogressiven Kurs geht Polarized nicht mit, obwohl das Werk natürlich trotzdem alles andere als eindimensional ausgefallen ist. 1991/92 hätte es natürlich noch nicht in dieser Form entstehen können, denn da war Sentina noch nicht mal geboren und auch Husvik noch in sehr jugendlichem Alter.
Aber die wichtige Rolle der Bassistin macht schon der Opener „Design“ deutlich, einer der Songs, die man in dieser Form eher nicht von Tourniquet erwartet hätte – progressiver Power Metal mit Speedkante aufgrund des hohen Grundtempos, dazu der erwähnte, an markanten Stellen wie gleich im Intro oder auch in der vorderen Solohälfte auffällig in den Vordergrund tretende, sehr verspielte Baß und ein sehr eingängiger Refrain, der zum Wort „Design“ zwar nicht das Wort „Intelligent“ gesellt, aber trotzdem in dieser Richtung gemeint sein dürfte, wie der Rest des Textes assoziiert, worüber sich der Hörer wie üblich seine eigenen Gedanken machen darf. Mit „War In The Sky“ folgt dann der Song des Albums, der am stärksten an die frühen Tourniquet erinnert – edler Thrash, der auch auf eines der ersten Alben gepaßt hätte, wie auch das ganz typische Finalarrangement mit einem kleinen Augenzwinkern darzulegen scheint. Die solide Umsetzung eines Satzes aus Vivaldis „Sommer“ wäre dort gleichfalls nicht deplaziert gewesen, auch wenn es davon mittlerweile noch stärkere metallische Adaptionen gibt. Stilistisch ungewöhnlich ist dann wieder „Darfur“, vom Konflikt in der gleichnamigen afrikanischen Region handelnd. Die erste Songhälfte fügt sich mit ihrer progressiv-powerthrashigen Anmutung in den Rest des Materials ein (zugleich auch die einzigen doomigen Elemente des Albums hervorholend), die zweite Hälfte gehört aber einem düsteren Instrumental mit Pink-Floyd-Einflüssen, aber auch Gedanken in Richtung diverser skandinavischer Melancholiker schweifen lassend – dieser Stil ist bereits im Intro zum Tragen gekommen. Dieser Song ist von Mendez mitgeschrieben worden, der zu seinen Tourniquet-Zeiten noch nicht am Songwriting beteiligt war, und wenn man das elegische Instrumental „In Remission“ hört, das auch aus seiner Feder stammt, dann könnte es sein, dass der besagte zweite Teil von „Darfur“ derjenige ist, der aus seiner Feder stammt. Interessanterweise handelt es sich allerdings eigentlich um eine Coverversion: Eine auf Youtube nachhörbare Frühfassung dieses Songs stammt von einem Projekt namens 2050, an dem Mendez, Lenaire und mit Victor Macias noch ein weiterer alter Tourniquet-Musiker beteiligt waren, und diese 2005 geschriebene Frühfassung entspricht in der vorderen Hälfte weitgehend der Fassung auf Polarized, während das düstere Instrumental in der zweiten Hälfte nur angedeutet wird. Die Songwriting-Credits für die Frühfassung nennen nur Lenaire, was die Theorie bestätigen könnte, dass Mendez hauptsächlich für den zweiten Teil verantwortlich war.
Ritter hat gleichfalls zwei Nummern beigesteuert, darunter den Titeltrack, der eher unauffälligen Power Metal bietet, aber mit einer kurzen Sprechgesangspassage kurz Richtung „Spineless“ schielt – aber nur kurz: Polarized bleibt Hip-Hop-freie Zone. Der spanisch anmutende Akustikpart bildet eine weitere Bereicherung und ist vielleicht ideenseitig von Mendez gekommen, der gemäß seinem Nachnamen ja zur Hispano-Bevölkerung der US-Westküste gehört. Der melodische Speed-Thrasher „Biotech Babylon“ wiederum stammt aus Lenaires Feder, schmuggelt aber einige der hohen Vokalisen ein, die Ritter einst in „Broken Chromosomes“ in Szene gesetzt hatte. Der andere neue Song Ritters, „My Last Ride“, greift mit dem Schicksal eines nicht mehr gewollten Hundes eigentlich ein ureigenes Kirkpatrick-Thema auf, aber es ist natürlich schön, dass die engagierte Beschäftigung mit solchen Dingen „abgefärbt“ hat. Die Nummer selbst gebärdet sich als Power Metal mittleren Tempos mit einer kurzen düsteren Dramatisierung – die beiden Ritter-Nummern sind also musikalisch durchaus verwandt und im Kontext des Albums zweifelsfrei auszumachen, nicht als Fremdkörper, aber doch als einem ganz bestimmten der fünf Hirne entsprungene Songs.
Die drei finalen Nummern stammen wie schon die beiden eröffnenden aus Lenaires Feder. „Freeloading Larcency (Freedom Fading)“, nach zurückhaltendem Intro munteren Speed-Thrash auffahrend, wirft dabei eher inhaltlich Fragen auf, denn auf dem Digipack sind sonst alle Texte komplett abgedruckt, nur dieser verschwindet nach den ersten Zeilen im optischen Nichts. Eine politische Nummer ist’s, eingeleitet mit Reden u.a. von Churchill und Reagan und im dramatischen Mittelteil noch weitere Wortbeiträge einmixend. Sollten Flood die Aussagen des (scheinbar antisozialistischen) Textes als zu kontrovers empfunden haben und zumindest in den nichtanglophonen Ländern Konfliktpotential vermeiden wollen haben? Die Frage muß offenbleiben. Im vielschichtigen Instrumental „The Order Of Melchizedek“ wiederum verarbeitet Lenaire eine Geschichte aus dem Alten Testament, und als elfte und letzte Nummer zaubert das Quintett noch einen furiosen Song namens „Stop The Bleeding“ hervor, um dem Tourniquet-Namedropping die Krone aufzusetzen – deren gleichnamiges 1990er Debütalbum hatte bekanntlich keinen Titeltrack besessen, der hier sozusagen nachgeliefert wird.
Spannende Frage blieb freilich generell, wie sich Ritter gesanglich schlagen würde – die Stimme ist immerhin um drei Jahrzehnte gealtert. Letzteres hört man auch, und die schon auf Pathogenic ... ausgestorbenen Falsettlagen braucht man auf Polarized gar nicht erst zu suchen, auch wenn sie in „Stop The Bleeding“ ganz zu Beginn nochmal kurz eingemischt werden, sozusagen als nostalgische Erinnerung. Die rauhere Artikulation etwa in „My Last Ride“ dürfte gestalterische Absicht sein, und ansonsten hält sich Ritter meist im Bereich einer dunklen Klarstimme auf, gelegentlich auch in immer noch kompetentes Thrash-Shouting verfallend, soweit selbiges nicht von Lenaire stammt. Auch in diesem Bereich kann der Hörer also beruhigt aufatmen. Ritter und Lenaire zeichnen auch für die technische Komponente verantwortlich, holten sich aber fürs Mastering Bill Metoyer, womit sich ein weiterer Kreis schließt.
Polarized zählt auch ohne die permanenten Tourniquet-Vergleiche zu den erfreulichsten Metal-Alben der jüngeren Vergangenheit und wird auch keine Eintagsfliege bleiben – der Nachfolger sei bereits in Arbeit, heißt es. Wie der dann klingt, bleibt gespannt abzuwarten, aber bis dahin lohnt die knappe Stunde Musik erstmal eine intensive Beschäftigung, sofern man auf anspruchsvollen Metal im Grenzgebiet zwischen Power, Speed und Thrash steht.



Roland Ludwig

Trackliste

1Design4:37
2War In The Sky5:02
3The Four Seasons (Summer)2:57
4Darfur8:39
5Polarized4:53
6Biotech Babylon4:44
7In Remission5:34
8My Last Ride4:29
9Freeloading Larceny (Freedom Falling)7:09
10The Order Of Melchizedek5:00
11Stop The Bleeding4:12

Besetzung

Guy Ritter (Voc)
Gary Lenaire (Git, Voc)
Erik Mendez (Git)
Anna Sentina (B)
David Husvik (Dr)
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So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger