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Reviews

Tourniquet

Pathogenic Ocular Dissonance


Info

Musikrichtung: Thrash Metal

VÖ: 26.06.2020 (1992)

(Retroactive)

Gesamtspielzeit: 74:29

Internet:

http://www.tourniquet.net

In den ersten Tourniquet-Jahren muß es speziell bei Ted Kirkpatrick eine Art kreative Explosion gegeben haben. Die Alben erschienen im Jahrestakt, und der Drummer hatte jeweils gute Teile von ihnen komponiert – und zwar immer mehr zunehmende Teile, auf dem Drittling Pathogenic Ocular Dissonance allein sieben von zwölf Songs. Durch seine immer stärker ausgeprägte Führungsrolle entstanden freilich auch Spannungen im Bandgefüge, und als erster der „klassischen“ Besetzung ging Sänger Guy Ritter von Bord, nachdem er den Drittling noch eingesungen und zwei Songs mit Gary Lenaire co-komponiert hatte. Interessanterweise sind die sehr hohen Gesangseinlagen mittlerweile bis auf einen kurzen Einsatz im Finale von „En Hakkore“ und eine zweite Stimme in „The Skeezix Dilemma“ komplett ausgestorben – Ritter und seine Mitsänger (alle Bandmitglieder außer Kirkpatrick) shouten in verschiedenen Intensitätsstufen, auch mehrere Farben des Klargesangs sind vertreten, darunter ein markanter dunkler, fast klagender Ton, den es in ähnlicher Form ein Jahr später auf dem Sacrosanct-Meisterwerk Tragic Intense zu hören gab. Instrumental freilich ist die Stunde Musik nochmal deutlich vielfarbiger ausgefallen als die Vorgänger – Kirkpatrick beschreibt es in den Liner Notes des Re-Releases so: „By our third album, our growing fan base were getting used to ‚expecting the unexpected‘. [...] Anything goes – and did – on this album.“ Nun sollte niemand den letzteren Satz in Richtung des einige Jahre später erschienenen und wüst durch die Musiklandschaft springenden Crawl To China-Album interpretieren – auf Pathogenic Ocular Dissonance ist das komplette Material immer noch auf (thrash-)metallischer Basis konstruiert.
Das Intro erfüllt seinen spannungserzeugenden Job in prima Weise – der Titeltrack geht dann allerdings gleich als Beweis für Kirkpatricks Worte durch, indem er das Tempospektrum so weit außen abgrenzt wie sonst nie zuvor: Blastbeats unter dem Refrain, ein großer Doompart aber in der Songmitte. „Phantom Limb“ legt in die Gitarrenarbeit so viel Blues wie noch nirgends auf den ersten beiden Alben, macht allerdings trotzdem kompromißlosen Metal draus und schielt nicht in Richtung des (1992 schon wieder abflauenden) Sleaze-Booms. Weil Kirkpatrick dieses Stilmittel so gut gefallen hat, baut er es im Finale von „Ruminating Violence“ gleich nochmal ein, nachdem er im Hauptteil etwas schwer erschließbaren Thrash untergebracht hat. Erst an Position 5 kommt mit Lenaires „Spectrophobic Dementia“ der erste Nicht-Kirkpatrick-Song zum Vorschein, ebenfalls eine recht komplexe Nummer im Grenzbereich zwischen Power und Thrash Metal, aber ohne größere Höhepunkte. In „Gelatinous Tubercles Of Purulent Ossification“ tobt sich dann wieder Kirkpatrick kreativ aus, und zwar nicht nur beim Songtitel, sondern auch musikalisch, wobei nicht etwa Carcass zitiert, sondern Roboter-Vocals und ein sterilisiertes Soundgewand mit klassischem Metal synthetisiert werden – zweifellos gewöhnungsbedürftig, aber interessant. Wem das zuviel Innovation ist, der könnte sich am ersten Songwritingbeitrag von Bassist Victor Macias schadlos halten, nämlich „Incommensurate“ – so glaubt man wenigstens anfangs. Elegante Speedpassagen und verschleppter Thrash mit markanten Shoutvocals, auch in anderen Kombinationen, lassen das eine Zeitlang vermuten, aber dann erinnert sich der Basser seiner Latino-Wurzeln, baut einen Latino-Metal-Part ein, und das lange Outro wird in epischer Breite, Sprechgesang und eingebauten maschinengewehrartigen Drumsalven in eine nochmal ganz andere Richtung geführt. Mit „Exoskeletons“ und „Theodicy On Trial“ folgen die beiden Ritter-Lenaire-Kollaborationen – und erstere überrascht gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen ist das eine Art atmosphärischer Power Metal, wie die beiden Songwriter ihn auch 30 Jahre später auf dem Debüt ihrer neuen Band Flood noch gut hätten unterbringen können – zum anderen endet der Song aber mit einem direkten Black-Sabbath-Zitat, und zwar aus „Supernaut“ vom 1972er Vol. 4-Album. Sollte der bekennende Doom-Anhänger Kirkpatrick das hier angeregt haben (ohne gesonderte Creditangabe), oder hat er auch seine Bandmitglieder zwischenzeitlich mit dieser Liebe angesteckt? Eine interessante Wahl bleibt’s allemal, indem es sich eben nicht um ein klassisches Doomriff handelt, sondern um einen lockeren, fast tänzerischen Part. „Theodicy On Trial“ ist im Direktvergleich fast schon ein klassischer Tourniquet-Powerthrasher mit einem Mix aus verschleppten und flotten Passagen sowie einem frenetischen Hauptsolo. Das anderthalbminütige Kirkpatrick-Instrumental „Descent Into The Maelstrom“ (kein Drumsolo, sondern mit den anderen Instrumentalisten eingespielt) fällt für einen Abstieg in den Mahlstrom erstaunlich kontrolliert aus, und in Lenaires „En Hakkore“ finden wir im Intro einen bisher noch gar nicht zutagegetretenen Einfluß: Das hätten auch Blind Guardian nicht wesentlich anders gestaltet – den Rest des Songs aber schon, der sich wieder quer durch den Gemüsegarten powerthrasht und etliche Durchläufe zur Erschließung braucht. Das Americana-Solo setzt dem Ganzen dann die Krone auf, wobei man sich freilich fragt, wieso diese Stilistik für wenige Sekunden um die Ecke kommt und dann schon wieder verschwindet – aus der Idee wäre mehr herauszuholen gewesen. Im das reguläre Albummaterial abschließenden Zehnminüter „The Skeezix Dilemma“ packt Kirkpatrick dann noch eine ganz neue Stilistik aus, nämlich einen ultraschrägen längeren Zirkuspart, der im insgesamt recht klar strukturierten, allerdings von feistem Doom bis zu flottem Speed wieder mal alles auffahrenden Songgerüst eine wichtige inhaltliche Funktion erfüllt (es geht um das Thema Kindesmißbrauch). Der auf Microscopic View Of A Telescopic Realm, dem 2000er Meisterwerk Tourniquets, enthaltene zweite Teil des Songs überzeugt zwar noch ein klein wenig stärker, aber auch vom ersten Teil kann man schon sehr beeindruckt sein, und ein Gedanke in Richtung von Annihilators „Alison Hell“ ist sicher nicht als Sünde zu verdammen, wenngleich Kirkpatrick hier natürlich nicht blindlings kopiert.
Wie seine beiden Vorgänger ist auch Pathogenic Ocular Dissonance in der Metal Icon Series von Retroactive Records wiederveröffentlicht worden, wieder mit vier Bonustracks – und wieder nicht mit den gleichen, die auf früheren Re-Releases zu hören waren. Dabei dürfte mancher Anhänger „The Tempter“ allerdings sowieso schon in der Sammlung haben – zum einen war das Trouble-Cover der Bonustrack der 1992er Metal-Blade-Erstpressung, zum anderen handelt es sich um eine Übernahme von Vol. 2 der Intense Live Series, also einer „Live im Studio“-Session, die Tourniquet nach Ritters Ausstieg mit Bloodgoods Les Carlsen am Mikrofon bestritten. Die Frage ist nur, wer hier wirklich singt: Die Stimme ist teilweise so verfremdet, dass sie nicht eindeutig Carlsen zuzuweisen ist (bei anderen Songs dieser Session bereitet das hingegen keine Probleme), so dass es auch sein könnte, dass hier Lenaire, Macias oder der ebenfalls mit Vocals angegebene Zweitgitarrist Erik Mendez zu hören ist, und die geshouteten Passagen dürfte vermutlich auch einer dieser drei übernommen haben.
Die finalen drei Tracks kommen hingegen ohne Vocals aus – es sind instrumentale Demofassungen dreier Kirkpatrick-Albumnummern, die den kreativen Schritt hin zur Endfassung verdeutlichen. Der Drummer hat auch an diesem Re-Release tatkräftig mitgearbeitet, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es die letzten Tourniquet-Beiträge zur Metal Icon Series bleiben werden, da der nach seinem Tod fehlende Beitrag kaum adäquat ersetzbar sein dürfte. Wie es nach dem Originalrelease mit der Band weiterging, ist im Nachruf auf Ted Kirkpatrick nachzulesen. Pathogenic Ocular Dissonance braucht nicht nur wegen der anderthalbfachen Spielzeit nochmal deutlich mehr Erschließungszeit als der Vorgänger Psycho Surgery, lohnt diese Arbeit jedoch definitiv.



Roland Ludwig

Trackliste

1Impending Embolism2:05
2Pathogenic Ocular Dissonance4:26
3Phantom Limb5:40
4Ruminating Virulence5:31
5Spectrophobic Dementia5:15
6Gelatinous Tubercles Of Purulent Ossification5:12
7Incommensurate5:47
8Exoskeletons3:55
9Theodicy On Trial4:28
10Descent Into The Maelstrom1:31
11En Hakkore3:38
12The Skeezix Dilemma10:01
13The Tempter (Live)6:11
14Impending Embolism (Instrumental Demo)2:01
15Pathogenic Ocular Dissonance (Instrumental Demo)3:59
16Ruminating Virulence (Instrumental Demo)4:42

Besetzung

Guy Ritter (Voc)
Gary Lenaire (Git, Voc)
Erik Mendez (Git, Voc)
Victor Macias (B, Voc)
Ted Kirkpatrick (Dr)
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So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger