Talizman
Taken By Storm
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In den Mittachtzigern brachten Hexx zwei gutklassige Power-Metal-Alben heraus, hatten aber immer wieder mit Besetzungswechseln zu kämpfen und waren mit der Unterstützung seitens ihres Labels Shrapnel unzufrieden, so dass nach Under The Spell die Besetzung abermals zerfiel und die verbliebenen Mitglieder die Richtung gen Thrash/Death änderten. Der einstige Drummer Dave Schmidt hätte diesen Weg vermutlich nicht gerne mitgehen wollen. Er blieb stilistisch bei seinem Leisten und tat sich mit dem Gitarristen Jeff Baker zusammen, der wiederum den Bassisten Vinny Mora anschleppte und es letztlich sogar schaffte, den zwischenzeitlich gen Texas entfleuchten Doug Tobin, den Sänger von Bakers Ex-Band Maximum Force, zur Rückkehr an die US-Westküste und zum Einstieg bei der neuen, Talizman getauften Band zu bewegen. Mit Jerry Robison stieß letztlich noch ein zweiter Gitarrist zur Band, und ein theoretisch schlagkräftiges Team war beisammen.
Nur mit der Schlagkraft in der Praxis tat sich ein Problem auf: Traditionell geprägter Metal war in den Spätachtzigern schon längst auf dem absteigenden Ast, und zahllose Bands wurden in der sich zwischen den ins extremmetallische Areal abwandernden und den der „Poserszene“ anhängenden Fanlagern auftuenden Kluft verschluckt und nur von einer überschaubaren Anzahl Anhänger goutiert – eine Entwicklung, die sich mit dem aufkommenden Grunge in den Frühneunzigern noch beschleunigte. Talizman schafften es erst 1992, ihr Debüt Taken By Storm einzuspielen, aber sie fanden kein Label und mußten den Neuntracker daher in Eigenregie herausbringen. Auch in der Folgezeit bekamen sie kein Bein auf den Boden und lösten sich auf.
Dass damit eine Band mit großem Potential vor die Hunde gegangen ist, wird deutlich, wenn man sich Taken By Storm in der Re-Release-Fassung anhört. Talizman hätten es schaffen können, verschiedene Fanlager zu vereinen – vor allem hätten sie alle abgreifen können, die den Weg von Queensrÿche ab Promised Land nicht mehr mitgehen wollten. Sie spielten typischen, leicht proglastigen, aber auch von Iron Maiden beeinflußten Melodic Metal, den sie zugleich derart mit Chören aufpeppten, dass auch ein paar „Poser“ dem Charme hätten erliegen können. So klingt schon der Opener „The Nightmare Is Over“ wie eine Mixtur aus Maiden und Stryper und gibt damit die Marschrichtung für die Dreiviertelstunde Musik vor, ergänzt wie erwähnt noch um eine phasenweise relativ komplexe Rhythmusarbeit, die aber nie zum progressiven Selbstzweck ausartet – Schmidt weiß sehr genau, wann er geradlinig nach vorn powern sollte, und gibt damit etwa dem Refrain des Titeltracks genau jenen vorwärtsdrängenden Charakter, der zum umliegenden vielschichtigen, auch mit Akustikparts angereicherten Hauptteil des Songs wirkungsvoll kontrastiert. Dass die beiden Gitarristen Meister ihres Faches sind und jeder auch als Leadgitarrist sein Können beweisen darf, reiht sich ins hochklassige Gesamtbild genauso ein wie Tobins Gesang, der in einer bestimmten Höhenlage tatsächlich ein wenig an Bruce Dickinson erinnert, aber insgesamt jede Menge Eigenständigkeit mitbringt, großes Ausdrucksvermögen aufweist und bedarfsweise auch fast in gothickompatibles Tiefengegrummel hinuntersteigen kann, wie die ersten Einsätze in „Call Of The Wild“ zeigen. Dass der Einstieg in diesen Song ein bißchen arg an Mötley Crües „Kickstart My Heart“ angelehnt ist (und schon der war nicht neu), verzeiht man dem Quintett gern, da es ansonsten durchgängig unter Beweis stellt, dass es auch kompositorisch hochwertige Ideen aus dem Ärmel schütteln und umsetzen kann. Natürlich leben auch Talizman nicht hinter dem Mond, und so verschleppt Schmidt seine Drumarbeit in „I Need Your Lovin‘“ derart, dass er damit auch bei einer der damals in Mode befindlichen „alternativen“ Bands hätte anheuern können, und in der Kombination mit dem traditionellen bis angeproggten Überbau entsteht hier der beste Song, der nicht auf dem erwähnten Promised Land gelandet ist, aber dort hingepaßt hätte. Dass Talizman auch viel weiter rückwärts anzusiedelnde Einflüsse verarbeiten, zeigt das bluesige „Wicked Woman“, wobei der Blues hier nicht in seiner Verkleidung als Sleaze oder als Aerosmith-Rip-off daherkommt, sondern wirklich als düster vor sich hin schlurfende, aber trotzdem irgendwie elegante Klangwelt.
Die 2022 bei Cult Metal Classics in einer 500er Limitierung erschienene Re-Release-Fassung von Taken By Storm im Jewelcase enthielt sieben Songs plus die zwei Instrumentals „Interlude“ und „Egyptians“, letzteres rhythmisch auch relativ abgepfiffen, aber melodisch nicht zu offensichtlich am südöstlichen Mittelmeer wildernd. Nachdem diese 500 Exemplare offenbar in Windeseile vergriffen waren, wurden 2023 weitere 500 nachgeschoben, diesmal allerdings im Digipack (mit Liner Notes, Lyrics und historischen Fotos im Booklet) und mit einem Extrasong, dem am 24. August 1991 in einem Konzert mitgeschnittenen „There’s No Easy Way Out“, das kaum Publikum hören läßt, von der Klangqualität her natürlich nicht mit dem (für angeproggten US-Metal der besagten Entstehungsperiode typischen) höhenlastigen Sound der remasterten Studioaufnahme mithalten kann, aber alles hören läßt, was man hören muß – und live konnte das Quintett offensichtlich auch überzeugen, wobei etwa in „I Still Chase Charlie“ der Doppelleadpart im Studio nicht mit einer Rhythmusgitarre unterlegt wurde, Talizman hier also abbilden, wie diese Passage live klingt. Von etwaigen aktuellen Livequalitäten überzeugen kann man sich nicht – im Gegensatz zu Dutzenden anderen alter Bands hat hier keine Reunion stattgefunden, und das wird aufgrund des zwischenzeitlichen Todes von Bandkopf Jeff Baker wohl auch in Zukunft nicht passieren, so dass man sich das Vermächtnis der Band nur in konservierter Form geben kann. Ob die Käufer der ersten 500 Exemplare über den nachgeschobenen erweiterten Re-Release des Re-Releases glücklich sind, darf diskutiert werden, aber für alle, die erst jetzt auf die Existenz aufmerksam werden, stellt sich diese Frage sowieso nicht, wenn sie sich an einer Perle des episch-proggigen Metals wie dem regulären Albumcloser „Child Of The Night“, mit knapp sieben Minuten der längste Song von Taken By Storm, erfreuen wollen. Und das lohnt sich definitiv – gerade als Freund der älteren Queensrÿche-Werke, dem aber vielleicht schon ab Rage For Order ein leicht gekünstelter Touch mißfallen hat, könnte man mit dem ehrlich von der Leber weg musizierten Material von Talizman innige Freundschaft schließen.
Bleibt abschließend noch eine Handvoll struktureller Fragen: In seinem Teil der Liner Notes erwähnt Tobin, dass Baker und er mit Maximum Force ebenfalls genügend Songs für ein Album aufgenommen hatten, das dann aber unveröffentlicht blieb. Selbst wenn man in Erwägung zieht, dass das Jahre vor Talizman war und sich die beiden natürlich weiterentwickelt haben dürften, entsteht doch eine gewisse Neugier, wie denn dieses frühere Material geklungen hat ... Außerdem gäbe es von Tobin etliche EPs mit der von Baker produzierten Band Nemesis, veröffentlicht in der Zeit zwischen Maximum Force und Talizman ... Und dann ist da noch eine Talizman-EP, aufgenommen zwei Jahre vor dem Albummaterial. Die hätte spielzeittechnisch locker noch auf den Taken By Storm-Re-Release gepaßt, also muß es Gründe geben, wieso das nicht geschehen ist. Entweder das Material war nicht auffindbar, oder die verbliebenen Mitglieder haben es als nicht gut genug erachtet – oder wir dürfen uns auf noch einen Re-Release freuen ...
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | The Nightmare Is Over | 3:21 |
2 | I Still Chase Charlie | 6:10 |
3 | Wicked Woman | 5:29 |
4 | Interlude | 1:56 |
5 | Taken By Storm | 4:50 |
6 | Call Of The Wild | 4:13 |
7 | I Need Your Lovin‘ | 5:42 |
8 | Egyptious | 4:36 |
9 | Child Of The Night | 6:43 |
10 | There’s No Easy Way Out | 5:05 |
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Besetzung |
Doug Tobin (Voc)
Jeff Baker (Git)
Jerry Robison (Git)
Vinny Mora (B)
Dave Schmidt (Dr)
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