Die Ärzte in 100 Seiten
Der äußere Rahmen ist von Reclams 100 Seiten Serie gesetzt. So hat Stephan Rehm-Rozannes 100 Seiten in der Größe einer Maxi-Postkarte zur Verfügung, um sich der besten Band der Welt aus Berlin zu widmen. Er macht daher gleich im ersten Kapitel, einer Art Vorwort, deutlich, dass er sich darauf beschränken muss, „exemplarische Aspekte hervor“[zuheben] (Seite 10). Gleichzeitig outet er sich als Fan der zweiten Stunde, der die Band erst nach ihrer Reunion für sich entdeckt hat - wenn ich ihn richtig verstanden habe, auch noch nicht mit dem Reunions-Debüt Die Bestie in Menschengestalt, sondern erst mit dem Nachfolger Planet Punk. Den Backkatalog hat er sich aber erarbeitet – und er wird auch in den ersten Kapiteln dargestellt, inclusive der Ursprünge der Pseudonyme und Kurzvorstellung der insgesamt fünf Ärzte – dem Zentrum, Bela B und Farin Urlaub, sowie ihren drei aufeinander folgenden Mitspielern Hagen, Sahnie und Rod. Es gelingt Rozannes trotz des knappen Raumes ein Bild der Band zu zeichnen, bei dem man nicht den Eindruck hat Entscheidendes zu verpassen. Die Beziehung zu zwei anderen deutschen Bands zieht sich als roter Faden durch das Buch. Da wären auf der einen Seite die Toten Hosen. Auch hier ist Rozannes in der Lage, die Hass-Liebe der beiden Bands zueinander, (historisch) einzuordnen und zumindest zum Teil als Inszenierung erkennbar zu machen. Nach der Trennung waren die Ärzte mit ihren Soloprojekten nur bedingt erfolgreich. Rozannes benennt aber auch die von Bela und Farin empfundene Notwendigkeit, etwas zu rechten Tendenzen in Deutschland zu sagen, als eines der Motive Die Ärzte wieder ins Leben zu rufen. Das hat uns eine der stärksten anti-Nazi-Songs der deutschen (nicht nur) Rock-Geschichte bescherte: den wirklich genial inszenierten „Schrei nach Liebe“. Allerdings sind die Ärzte dabei – wie viele andere Musiker-Kollegen - einer Presse-Ente aufgesessen. Als sich nach der Wiedervereinigung verstärkt rechte, fremdenfeindliche Gewaltakte vor allem, aber nicht nur in den so genannten neuen Bundesländern ereigneten, brauchten die Medien Ursachen. Eine wurde bei rechten Rockbands gefunden. Das Problem: Kaum ein Journalist kannte sich in diesem Milieu aus. Die Böhsen Onkelz, die in ihren Anfangsjahren als Teenager zwei türkenfeindliche und nationalistische Songs geschrieben – aber nie veröffentlicht – hatten, waren mittlerweile so erfolgreich, dass sie auch außerhalb des Undergrounds wahrgenommen wurden – und es wurde immer wieder auf diese Jugendsünden hingewiesen. Das führte dazu, dass die Presse – in Unkenntnis wirklich rechter Bands – die Onkelz als Paradebeispiele für rechte Bands benannte. Darauf sind viele politisch bewusste Musiker hereingefallen – auch die Ärtze mit ihrer Textzeile „zwischen Störkraft und den Onkelz steht ne Kuschelrock-CD“. Kritische Geister, wie z.B. Wolfgang Niedecken (BAP), informierten und distanzierten sich relativ schnell von den ersten Reaktionen; andere lehnten Auftritte mit dem Onkelz auf Festivals, die sich gegen Rechts positionierten ab, bzw. forderten die Auslandung der Onkelz. Ich weiß nicht, welchen Lernprozess die die Ärzte in dieser Frage durchlaufen haben und wie sie heute zum den Onkelz stehen. Für Rozannes sind die Frankfurter in jedem Fall ein rotes Tuch. Er disst sie an jeder passenden und unpassenden Stelle. Möglicherweise steht ihm hier sein Ärzte-Fan-Status im Wege. Er sieht in den Ärzten die stärkste Band Deutschlands, die einzige, der es gelungen ist nach einer Reunion relevant(er) zu sein, mit den treusten Fans der Welt. Ich stimme zu, dass die Hosen den Ärzten nicht das Wasser reichen können, aber wenn man die Erfolge – gegen alle Medienkampagnen – der Böhsen Onkelz sieht, nicht zuletzt ihre großen bandzentrieren Festivals, dann fragt man sich, ob Herr Rozannes nicht einfach die Band disst, die seinen Faves den Rang abzulaufen droht. Norbert von Fransecky |
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