Musikgeschichte: Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester mit neuem Mozart und altem Bruckner
Dass in der Leipziger Stadtbibliothek die Abschrift eines Stückes namens „Serenata, Ex C“ lagert, weiß die Musikwissenschaft schon länger, und auf dem Titelblatt der in der Sammlung von Carl Ferdinand Becker aufbewahrten Komposition findet sich eine Zuschreibung an keinen Geringeren als Wolfgang Amadeus Mozart, die freilich bisher stets angezweifelt worden war. Erst im Zuge der aktuellen Arbeiten an der neuen Ausgabe des Köchelverzeichnisses verfestigte sich die Meinung in der Forschung, dass die Zuschreibung vielleicht doch richtig sein könnte und es sich hier um die in mehreren Briefen erwähnte „ganz kleine Nachtmusik“, ein Frühwerk des Salzburgers, handeln könnte. Jedenfalls firmiert das Stück nun auch ganz offiziell als Werk von Mozart (wenngleich im Verzeichnis immer noch unter den Kompositionen mit zweifelhafter Echtheit eingruppiert), wurde unter dieser Zuschreibung am 19.9.2024 erstmals in Salzburg aufgeführt und erlebte zwei Tage später in der Leipziger Oper seine neuzeitliche deutsche Erstaufführung (ob aus Beckers Manuskript schon früher mal gespielt wurde, läßt sich weder bejahen noch verneinen), beide in Besetzung für zwei Violinen und Basso continuo, letzterer in Salzburg mit Cello und Cembalo ausgerüstet. Nun war allerdings auch Herbert Blomstedt (Foto) mal wieder im Lande – der Ehrendirigent des Gewandhausorchesters hatte ein Konzert mit „seinem“ Orchester bevorstehen. Und weil man sich auch mit 97 Jahren noch geistig frisch halten muß, entstand die Idee, eine Kammerorchesterfassung des Werkes ins anstehende Konzertprogramm zu integrieren, die dann auch gleich von der Deutschen Grammophon mitgeschnitten wird. Auf der Bühne im Großen Saal des Gewandhauses steht bzw. sitzt dann letztlich eine Besetzung aus sechs ersten Violinen, drei zweiten Violinen, drei Bratschen, drei Celli, einem Kontrabassisten, einem Fagottisten und einem Cembalisten. Die beiden Violingruppen bauen also jeweils eine der originalen Violinstimmen chorisch aus, die anderen Musiker teilen die Linien des Basso continuo unter sich auf, wobei die Geiger und die Bratscher stehen, der Rest sitzt. Auch der Dirigent, hereingeführt von Konzertmeister Sebastian Breuninger, sitzt: Herbert Blomstedt hat sich von seinem Sturz vor einigen Jahren zwar gut erholt und verzichtet wieder auf sein „Papamobil“, mit dem er eine Zeitlang auf die Bühne gefahren gekommen war, aber größere Strecken ohne Hilfe zurückzulegen oder gar ein Konzert stehend zu dirigieren ist dem alten Schweden nicht mehr möglich, und so nimmt er wie schon in den letzten Jahren auf einer auf dem Dirigentenpult plazierten Bank Platz. Dass ihn „seine“ Leipziger auch neunzehn Jahre nach seinem Abschied als Gewandhauskapellmeister immer noch lieben, wird schon beim Antrittsapplaus deutlich, der große Herzlichkeit erkennen läßt. Und dass der Dirigent auch mit 97 noch hellwach ist und sich auf unbekannte Stücke in geschickter Weise einlassen kann, das wird schnell deutlich. Allein schon die ruhige Eleganz des die Serenade eröffnenden Marche und die treibende, aber nicht hastige Gangart des folgenden Allegro sprechen hier Bände. Das Menuet gibt es in reduzierter Besetzung – hier spielen nur der Konzertmeister, der Stimmführer der zweiten Violinen, der Kontrabassist und der Cembalist. Wie sich das integrierte Trio gefühlt immer weiter im Morast festfährt, weist musikalisch erstaunlich weit in die Zukunft. Das kurze und stark akzentuierte Boloneso erklingt wieder in voller Besetzung und fällt durch die sehr betonten Pausen auf. Das Adagio kommt sanft schreitend, fast nokturnal daher, und wenn man hier was kritisieren will, dann ist es der etwas zu trockene Ausklang. Das zweite Menuet wird abermals in reduzierter Besetzung gespielt und legt im Trio diesmal eine überraschende Vollbremsung hin. Das Allegro Finale versprüht muntere, lebendige Freude, die allerdings kurz bleibt – es kommt als Rahmen nochmal der einleitende Marche, wobei die sägenden Ausbrüche schärfer wirken als vorn. Sehr viel Applaus belohnt die Musiker und den Dirigenten für diese Programmergänzung – ob man dem Stück in Zukunft öfter begegnen wird, wenn der „Neuigkeiten-Hype“ weg ist, steht zwar zu bezweifeln, aber man weiß ja nie, welche Wege die Musikgeschichte so geht. Beim eigentlichen Hauptwerk des Abends hat die Musikgeschichte ihr Urteil längst gesprochen: Anton Bruckners Sinfonie Nr. 8 c-Moll WAB 108 zählt zu den Gipfelpunkten der Sinfonik. Auch Herbert Blomstedt hat diese Sinfonie seit den 1960er Jahren oft aufgeführt, beispielsweise 2005 bei seinem letzten Konzert im Amt des Gewandhauskapellmeisters. Von den verschiedenen Fassungen hatte er sich damals für diejenige von Robert Haas entschieden, die sozusagen die Stärken der ersten und zweiten vom Komponisten selbst erstellten Fassungen bündelt, und ebenjene Fassung wählt er trotz zwischenzeitlich edierter Urtextfassungen auch anno 2024 wieder und spielt sie nicht nur mit dem Gewandhausorchester, sondern auch noch mit etlichen anderen Orchestern auf der ganzen Welt. Und er dirigiert sie auswendig, was ein simples äußeres Zeichen für die geistige Vitalität darstellt, die dieser Mann noch mit 97 an den Tag legt. Dass hier eine gehörige Portion Altersweisheit im Spiel ist, wird schon nach ein paar Takten des eröffnenden Allegro moderato klar. Blomstedt übertreibt es mit dem suchend-tastenden Gestus nämlich nicht, sondern entfaltet von Anfang an Zug zum Tor – andererseits hält er es aber nicht für nötig, sonderlich viel Massivität oder gar Monumentalität ins erste Hauptthema zu legen, sondern nur so viel, dass die Wirkung sich noch entfaltet, ohne den Hörer zu überrollen. Der Rezensent sitzt so, dass er die Posaunen und die Tuba nicht im direkten Hörfeld hat, und das trägt vermutlich ein Stück zu dieser Wirkung bei, da etwa die Tuba nicht selten klingt, als spiele sie irgendwo in einer Höhle. Detailarbeit ist natürlich auch kein Fremdwort: Jenseitige Englischhorneinwürfe lassen an die Vögel aus Einojuhani Rautavaaras „Cantus Arcticus“ denken, die erst ein knappes Jahrhundert später den Weg in den Konzertsaal fanden, die Wagnertuben evozieren einige Momente, die man nur noch als „göttlich“ bezeichnen kann, und die flirrenden Zeitlupenpassagen nimmt Blomstedt ganz anders, als das der aktuelle Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons tun würde – aber das Orchester folgt ihm auch hier willig, und die Wirkung erreicht bei beiden hohe Grade. Der Schwede liefert Spannungsbögen aus der ganz alten Schule, und wie er das Tutti zusammenbrechen läßt und noch einige Minuten durch die finale Suche mäandert, das ist einfach nur brillant gestaltet. Auf dem Notizzettel des Rezensenten steht noch das Stichwort „Anti-Brahms“ – Bruckner und Brahms konnten bekanntlich jeder mit dem Werk des anderen nichts anfangen, und wenn man diesen ersten Satz von Bruckners Achter hört, weiß man auch, warum. Das Scherzo bleibt im Allegro moderato und klingt doch anders. Blomstedt setzt hier auf Fluß statt Schärfe, auch das Tiefblech kommt gefühlt eher aus der Ferne, und doch fehlt es keineswegs an Power, während die ersten Violinen ein gespenstisches Flirren als Unterbau liefern. Das Trio nimmt der Dirigent durchaus nicht schleppend, aber der Mittelteil mit den Harfen wirkt ein wenig zu fragmentiert, während im Ausklang längst wieder die gewünschte Eleganz hergestellt ist. Die Reprise lagert etwas weiter außen als der erste Teil – mehr Power, aber beispielsweise auch perlenderes Holz. Und dann kommt nach dem Schlußton noch ein mehrsekündiger eigentümlicher Echo- bzw. Nachhalleffekt, dessen Herkunft der Rezensent nicht deuten kann. Im Adagio brauchen Dirigent und Orchester einen Moment Anlaufzeit, um sich aufeinander einzustellen, aber sobald sie das erreicht haben, wird hier was ganz Großes draus, und nachdem die Harfen im Scherzo noch nicht die angestrebte himmlische Wirkung entfaltet hatten, tun sie das jetzt hier. Blomstedt arbeitet in der Nähe des absoluten Stillstandes und entwirft eine kargestmögliche, aber erstaunlich undüstere Klangwelt – in der Finsternis scheint zumindest noch der Mond. Hier erleben wir den markantesten Unterschied der Bruckner-Interpretationen von Nelsons und Blomstedt: Nelsons preßt Wasser aus dem Stein, Blomstedt führt den Hörer durch die Wüste zur Quelle – beides hochgradig interessant und doch so unterschiedlich. Selbst das große Tutti wirkt bei Blomstedt nie nihilistisch, zumindest das erste nicht – den tränentreibenden Wagnertubenchoral hätten beide aber ähnlich genommen. Das zweite Tutti kommt dank des violinistischen Gesäges schärfer um die Ecke, besitzt aber trotzdem kein Vernichtungspotential – und dann gibt es noch eine faustdicke Überraschung: Der mehrminütige Satzausklang verschwindet nicht etwa im Äther, selbst die Harfen zeigen sich erstaunlich geerdet. Mit dem ersten Thema des Finales zeigt Blomstedt, dass er, wenn er will, durchaus auch Themen aus Stein meißeln lassen kann – nur ist es bei ihm Edelstein, trotz oder meinetwegen auch wegen der knarzenden Posaunen. Auch die Tuba ist klanglich deutlich präsenter als in den Sätzen zuvor, und über die Wagnertuben noch lobende Worte zu verlieren erübrigt sich mittlerweile. Fast groovige Pizzikati geben sich die Hand mit fast schwingenden Tutti, und außerdem stellt Blomstedt unter Beweis, dass er sehr genau mit den Pausen arbeitet (wer ihn mal mit den Bamberger Symphonikern in der Dresdner Frauenkirche gehört hat, weiß, wozu er fähig ist, was die Einbeziehung der Pausen als Stilmittel angeht) und ihre Wirkungen genau berechnet. In der Nähe des totalen Stillstandes schaut sogar mal ein Mahler-verwandter Kuckuck vorbei, und letztlich wartet ein fast galoppierender Weg zum Finale. In dem spricht dann wieder die Altersweisheit aus dem Dirigenten: Der Bombastfaktor bleibt überschaubar, er hüllt den Hörer nicht ein – und so eine extrem lange Spannungspause gerade nach einem fetten Schluß, wo man eigentlich gleich aufspringen und applaudieren will, hat der Rezensent auch lange nicht erlebt. Erst ganz, ganz langsam läßt der Altmeister seine rechte Hand sinken, und enthusiastischer Jubel bricht los, stehende Ovationen natürlich inclusive. Bei so einer musikalischen Leistung (für die es natürlich auch ein fähiges Orchester braucht, aber so eins haben wir mit dem Gewandhausorchester ja vor uns) bleibt nur der Wunsch, der Dirigent möge sich seine Vitalität noch möglichst lange erhalten und uns (und sich selbst) mit weiteren musikalischen Großtaten beglücken. Roland Ludwig |
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