Karl Marx hat Borreliose: Freddy Fischer & His Cosmic Rocktime Band beim Pus(c)hen-Festival in Chemnitz
Anstatt darauf zu warten, dass einem die öffentliche Hand Kultur in den Stadtteil bringt, kann man in selbigem auch in Eigenregie für solche sorgen, sagten sich vor einigen Jahren ein paar Einwohner des Kaßberges, eines Stadtteils westlich des Chemnitzer Zentrums, und riefen auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, einem kleinen Park inmitten des Viertels, ein Festival ins Leben. Zielgruppe bleibt zwar zunächst die regionale Anwohnerschaft, aber der Rezensent ist durchaus nicht der einzige Besucher an diesem ersten der beiden Festivaltage des fünften Festivaljahrgangs, dessen Bett nicht auf dem Kaßberg steht. Zwei Tage lang gibt es verschiedene Stände, Konservenmusik vom DJ-Team Bataclan (am zweiten Tag sogar mit Metalkante), ein Skatturnier, Theateraufführungen, einen Filmabend und eben auch einen Liveact: Am Abend des ersten, enorm warmen Tages steigen Freddy Fischer und seine Cosmic Rocktime Band auf die strukturell geschickt aufgebaute Bühne, die sich im abschüssigen Parkgelände an der tiefsten Stelle der parkzentralen Wiese befindet, so dass man fast amphitheaterartig auf die Bühne hinunterblicken kann, ohne den Boden der Wiese verlassen zu müssen. Fischer und seine Spießgesellen hat der Rezensent erst- und bisher auch einmalig im September 2019 in Jena unter Clubbedingungen gesehen – im Februar 2024 sind sie ihm in Altenburg aus strukturellen Gründen entgangen, und so nimmt er die Gelegenheit gerne wahr, sie an diesem Abend in Chemnitz mal wieder live zu begutachten. Die Cosmic Rocktime Band besteht auch an diesem Abend wieder aus zwei Personen, nämlich der auch die Hintergrundgesänge beisteuernden Rhythmusgruppe, während der Chef selbst am Tasteninstrument sitzt und die Leadvocals singt – eine Rückerweiterung um einen Gitarristen zu einer Besetzung, die vor ein paar Jahren gelegentlich aktiv war, hat also nicht stattgefunden, und somit bleiben etwaige Wünsche, der Gesamtsound würde sich ein wenig in Richtung Seventies-Rock verschieben, von vornherein Träume, obwohl das Songmaterial hier und da durchaus entsprechende Anknüpfungspunkte böte. Fischer und seine Combo sind bei diesem Festival keine Neulinge – sie haben vor drei Jahren schon mal hier gespielt und sind offenkundig noch bestens in den Hirnen vieler Anwesender verankert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass schon im Opener „Discomusik“ Fischer nach anderthalb Strophen seine Tasten verlassen und das erste von vielen Mitsingspielen anzetteln kann (und vor Rührung auch gleich mal eine Textzeile vergißt)? Und die Anwesenden zeigen sich textsicher und mitformulierfreudig, und zudem schwingen sie fleißig das Tanzbein, angeführt übrigens von zahlreichen der anwesenden Kinder, die fröhlich direkt vor der Bühne herumhopsen. Der Discosound des Trios ist allerdings auch hochgradig bewegungsfördernd und macht in der Livedarbietung richtig viel Hörspaß, zumal der Drummer geschickt zwar tempovariabel, aber eben immer mit rekognoszablem Tanzbeat arbeitet, der Bassist ebenfalls gekonnt zum Groove beiträgt und Fischer selbst mit gutem Händchen zwischen Hammond und verschiedensten anderen historischen Keyboard- bzw. Orgelsounds pendelt, zumindest dann, wenn er auf seinem Klavierhocker sitzt. Nicht selten steht er aber auch auf selbigem und feuert das Publikum an, oder er verläßt seine aus Publikumssicht links auf der Bühne stehende Tastenburg und interagiert sozusagen als Frontmann mit den Anwesenden – und man ist ihm ob der dadurch zwangsläufig ausgedünnten instrumentalen Komponente irgendwie nicht böse, nicht weil der Sound sonst etwa übersatt wäre (im Gegenteil: Das Ganze kommt gut balanciert und transparent aus den Boxen), sondern weil man neben den Mitsingaufgaben natürlich auch weiterhin das Tanzbein schwingt, da die Rhythmusgruppe ja weiter arbeitet. Die Stimmung im Park ist jedenfalls prächtig, und das ändert sich auch bei einem technischen Problem nicht: In „Du bist wunderschön“ fällt plötzlich der komplette Bühnenstrom aus – alles ist dunkel, und auch die elektrischen Instrumente und die Mikrofone müssen schweigen. Das passiert gerade während eines Refrains, und das Publikum singt diesen kurzerhand weiter und immer weiter, strukturell geleitet vom Drummer, der ja zumindest noch unverstärkte Geräusche auf seinem Instrument erzeugen kann, und das Ganze für mehrere Minuten, bis der Strom wieder da ist und der Song fortgesetzt werden kann. Sowas schafft kaum eine andere Band, und auch wenn man natürlich keiner so ein technisches Problem wünscht, so ergibt sich hieraus doch ein ganz spezieller von noch so manchen weiteren Gänsehautmomenten des Abends. Klar, tiefgründige textliche Analysen braucht man hier nach wie vor nicht anzustellen, und phasenweise grenzt das Material schon an Kitsch, aber Kitsch kann in gewisser Dosis eben auch schön sein, selbst dann, wenn man gerade nicht frisch verknallt ist oder wie der Rezensent sonst eher nicht so der große Disco-Anhänger ist. Aber da gibt es ja gleich im Opener die markante toleranzfördernde Zeile „Heute tanzen wir zur Discomusik – morgen geh’n wir dann zu Rock am Ring“. In „Schuhe raus und tanzen gehen“ bringt Fischer die Unklarheit, ob es nicht „Schuhe aus“ hätte heißen sollen, gleich in der Ansage unter (eine Feststellung, die der Rezensent schon in Jena getroffen hat), und auch ansonsten dreht sich ein guter Teil der Lyrik um das Schwingen des Tanzbeines oder um das zwischenmenschliche Element – die Geschichte vom „Mädchen von der Bahn“ findet dann ein Happy End wie so manche andere auch. So spielen sich Fischer und seine beiden Begleiter (der Basser sieht übrigens trotz Basecap immer noch so ein bißchen aus wie Karl Marx, was in einer einst Karl-Marx-Stadt geheißenen Metropole natürlich ganz besonders Charme hat – und solieren darf er auch wieder, wenngleich er das laut Ansage eigentlich gar nicht so mag) kreuz und quer durch den funk- und soulgeladenen Discosound der Siebziger, sorgen für beste Stimmung bei den Anwesenden, auch wenn diese etwas anders geartete Shirts tragen (der Rezensent, 2019 im Münchener-Freiheit-Shirt aufgelaufen, trägt diesmal eins des A-Cappella-Festivals Leipzig, andere Anwesende outen sich mit einem Ahab-Shirt oder einem vom Doom-Over-Leipzig-Festival als Anhänger völlig anders gepolter Musik, die sich freilich für ein derartiges Festival nur bedingt eignen würde), und werden ohne Zugaben natürlich nicht von der Bühne gelassen. Deren letzte, „Hier und überall“, ist keine Münchener-Freiheit-Coverversion, sondern eine textlich völlig abstruse Geschichte über eine Fotosafari, in der einem in der Kalahari-Wüste plötzlich Känguruhs begegnen, ein Löwe von einer Zecke gebissen und mit Borreliose infiziert wird und sich ein Mops in Berlin verläuft – hier vergißt man fast das Tanzbeinschwingen, weil man gleichzeitig intensiv auf den Text lauscht, um keine Absonderlichkeit zu verpassen, und sich aufgrund ebenjener Absonderlichkeiten vor Lachen biegt. So endet nach 90 Minuten ein hochgradig unterhaltsamer Gig einer sehr starken Formation, die man sich drinnen wie draußen mit Genuß ansehen kann. Roland Ludwig |
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