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Rosinante pfeift und jodelt: Das Shemesh Quartet ist die erste mexikanische Formation beim A-Cappella-Festival in Leipzig

Info

Künstler: Shemesh Quartet

Zeit: 07.05.2024

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Fotograf: Holger Schneider (Dreieck Marketing)

Internet:
http://www.a-cappella-festival.de
http://www.facebook.com/ShemeshQuartet

Ensembles aus mehr als 40 Ländern waren schon beim A-Cappella-Festival in Leipzig zu Gast, aber der Kreativfraktion gelingt es immer wieder, passende Formationen aufzuspüren und einzuladen, die noch weiße Flecken auf der Weltkarte tilgen. Beim 24. Festivaljahrgang anno 2024 geschieht das zweimal, und das erste Ensemble ist das Shemesh Quartet. Wer hinter diesem Namen allerdings eine israelische Formation vermutet, der irrt: Zwar stammt das Wort „Shemesh“ tatsächlich aus dem Hebräischen (und bedeutet „Sonne“), und der Bassist besitzt israelische Wurzeln, aber seine drei Mitstreiter sind Ur-Mexikaner, und auch er selbst wohnt in diesem Land und studierte wie seine Kollegen am Landeskonservatorium in Mexiko-Stadt, wo sich die vier bei einem Chorprojekt kennenlernten und 2015 beschlossen, gemeinsam in Quartettbesetzung weiterzuarbeiten. „Mexican Souvenirs“ heißt das Programm, mit dem sie im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses als erste Vertreter dieses Landes an der Brücke zwischen Nord- und Mittelamerika beim A-Cappella-Festival Leipzig antreten.
Die erste Hälfte des Programms besteht aus „Kunstmusik“ des 16., 17. und (überwiegend) 20. Jahrhunderts. Das Quartett kommt in farbigen Kostümen in den Farben Schwarz, Rot, Gelb und Weiß auf die Bühne, in deren Hintergrund ein Regenwaldbild projiziert wird, das aber statisch bleibt, so dass also nicht zu jeder einzelnen Nummer auch passende Motive an die Wand geworfen werden. Tenor Bruno hebt mit einem Solo an, bevor sich „Dios Itlazo Nantzine“, ein Stück des Komponisten Hernãndo don Franco aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in einen klassischen vierstimmigen Renaissancesatz wandelt, der später auch noch Sopranistin Ritta solistische Aufgaben zuweist und theatralische Elemente in Musik umsetzt – und der Hörer beginnt angehörs der letztgenannten die sprichwörtlichen Bauklötze zu staunen, wenn er sich vergegenwärtigt, in welcher Zeit wir uns hier befinden (da war etwa Schütz, der sowas im deutschsprachigen Raum oft und gern realisierte und dem nicht selten Pioniercharakter zugeschrieben wird, noch gar nicht oder gerade erst geboren). Wenn dieser Komponist (man munkelt, dass es sich um ein Pseudonym handelt, und es könnte sogar eine Frau und/oder eine Person indigener Herkunft dahinterstecken) noch mehr in dieser Richtung geschrieben haben sollte, wundert man sich, dass er noch nicht präsenter im Alte-Musik-Betrieb ist. Mit „Exsurgens Joseph“ von Antonio de Salazar folgt noch ein Stück aus dem späten 17. Jahrhundert, ein Mix aus einem flotten A- und einem breiten B-Teil, bevor sich das Repertoire ins 20. Jahrhundert bewegt, als die A-Cappella-Kultur in Mexiko erst richtig Fahrt aufnahm. Allerdings hat etwa Federico Ibarra Groth sein locker groovendes „A una dama que iba cubierta“ bewußt im alten Stil gehalten und nur mit ein paar neuzeitlichen Harmonien garniert, für die er einige Jahrhunderte früher noch auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre. Die „Tres epitafios“ op. 17 von Rodolfo Halffter setzen drei Figuren aus Miguel de Cervantes’ „Don Quixote“ ein Denkmal, und dass da auch Dulcinea von Toboso minniglich angebetet wird, versteht sich von selbst, ebenso wie die Würdigung von Rosinante.


„Pasas por el abismo“ ist das einzige A-Cappella-Stück des mexikanischen Nationalkomponisten Manuel M. Ponce, eher düster-dramatisch gehalten und mit einem hochspannenden Piano-Finale. Das Madrigal „A un Ruiseñor“ von Alfonso de Elías klingt auch älter, als es eigentlich ist, was in diesem Fall inhaltliche Gründe hat – es geht um den Wunsch nach der Wiederherstellung der früheren Größe und Bedeutung Mexikos, die bekanntlich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts stetig abgenommen hatte, oder gar des spanischen Vizekönigreichs aus noch früheren Zeiten. Auch hier fällt vor allem der spannende leise Schluß auf. „Para mi corazón basta tu pecho“ von Blas Galindo Dimas auf einen Text Pablo Nerudas stellt die Sopranistin physisch wie akustisch in die Mitte, während sich um sie her flotte Streitgespräche entwickeln. „Amanecía en el Naranjel“ von Carlos Jiménez Mabarak hingegen bringt einen Text von Federico García Lorca zur Vertonung, wobei Baß Ittai hier sehr traurige Linien zu singen hat, während Ritta und Bruno später mit sehr operesken Elementen gegensteuern. Von Mabarak stammt auch das letzte Stück des ersten Teils, „Rosa del mar“, diesmal mit einem maritimen Sujet, das sehr abwechslungsreich umgesetzt wird.

Die zweite Hälfte besteht aus ursprünglich anders gearteten Werken, die für A-Cappella-Quartett bearbeitet worden sind, in sieben der neun Fälle von Ensemblemitgliedern selbst, davon sechsmal Bruno und einmal Ittai. Es gibt neue Kostüme und zudem ständig wechselnde räumliche Anordnungen der vier Mitglieder, die im ersten Teil fast durchgängig in klassischer SATB-Reihenfolge auf der Bühne gestanden hatten. Im Gegensatz zu jenem, wo jedes Stück angesagt und erklärt worden war (auf Spanisch mit bisweilen leicht kuriosen Übersetzungen), gibt es hier weniger Ansagen. „La negra noche“ von Lauro Donato Uranga entpuppt sich als Nocturne, aber mit einigen Schwellungen, während das Traditional „Cantos Coloniales“ in der Bearbeitung durch Ramón Noble sehr flott daherkommt, immer dichter wird und in einen abrupten Schluß mündet. In „Ruega por nosotros“ von Alberto Raúl Cervantes González hat Bruno sich selbst, aber auch Ritta wieder sehr operatische Gestaltungselemente auferlegt – und von seinem Selbstbewußtsein zeugt der extrem lange auszuhaltende hohe Ton, den er selbst übernimmt. Das macht er klasse, und auch das Piano-Finale kommt wieder sehr spannend daher. „Dios nunca muere“ besteht lange nur aus Vokalisen, die aber bisweilen lautmalerisch gestaltet sind, was bis an die Grenze des Beatboxings führt und letztlich in einem Mix aus Lockerheit und Sehnsucht mündet. „Tata Dios“ von Ignacio Fernández Esperón behandelt eine Landhochzeit, bei der die Braut allerdings erkrankt und alsbald mit dem Tode ringt. Auch hier kommen umfangreich Vokalisen zum Einsatz, der Ausdruck wechselt zwischen Freude und Trauer, Bruno führt sich selbst diesmal an die Grenzen des Jodelns, und über die spannenden Finalgestaltungen müssen wir eigentlich gar nicht mehr reden. In „El Pastor“ von Miguel Angel José Diaz und González de Castilla Cuates pfeift der Tenor phasenweise auch noch, ehe er selbst die Leadstimme übernimmt, die er in beträchtliche Höhen gelegt hat. „El Andariego“ von Alvaro Carrillo Alarcón zeigt den Streit zweier Paare auf groovig-jazzige Weise, wobei der Tenor abermals Sonderaufgaben erfüllt, indem er mit Egg Shakern perkussiv arbeitet. „El Carretero“, ein von Jorge Martinez Zapata bearbeitetes Traditional, kommt mit rasselnden Trillern und Reitgeräuschen sehr schauspielerisch daher, man schweift in die Ferne, um den Reisenden zu erspähen, und Altistin Susana, die bisher noch gar nicht erwähnt wurde, aber ihren Job ebenfalls erstklassig erledigt, spielt zu all dem Luftgitarre. „La Iguana“, ein Traditional aus dem Staat Veracruz in der Bearbeitung von Ittai, schließt den zweiten Set ab und fährt nochmal ein sehr breites Spektrum auf: Schuhplattler, kollektives Luftgitarrespiel, hin und her fliegende Soli – ein lockeres, lustiges, aber nicht platt wirkendes Stück, nach dem das Quartett vom leider nur etwas über halbvollen Mendelssohn-Saal nicht nur laut bejubelt, sondern auch zu einer Zugabe überredet wird. Das Quartett packt noch ein Potpourri aus mexikanischen Standards aus, bei dem das Publikum, so die Ankündigung, einige Aha-Erlebnisse haben dürfte und das die vier 2017 zusammen mit Deke Sharon in der Carnegie Hall gesungen hatten. Natürlich wartet man in diesem Kontext irgendwie auf „La Cucaracha“, und dessen Hauptthema fungiert auch tatsächlich als Gliederungselement dieses im Vokaljazz angesiedelten und wieder perkussiv bereicherten Medleys, das ein sehr starkes, gleichermaßen lehrreiches wie unterhaltsames Konzert auf enorm hohem Niveau abschließt. Viva la México!

Setlist:
Dios Itlazo Nantzine
Exsurgens Joseph
A una dama que iba cubierta
Tres epitafios op. 17
Pasas por el abismo
A un Ruiseñor
Para mi corazón basta tu pecho
Amanecía en el Naranjel
Rosa del mar
--
La negra noche
Cantos Coloniales
Ruega por nosotros
Dios nunca muere
Tata Dios
El Pastor
El Andariego
El Carretero
La Iguana
--
Mexican Potpourri

Roland Ludwig


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