Diverse – (D‘Oustrac, St. - Dumestre, V.)

Mon Amant de Saint-Jean


Info
Musikrichtung: Barock / Chanson / Crossover

VÖ: 08.09.2023

(Alpha / Note 1 / CD / DDD / 2022 / Alpha 988)

Gesamtspielzeit: 59:33



ZWISCHEN LAMENTO UND CHANSON

Als man zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich die „Alte Musik“ wiederentdeckte, kam es zu spannenden Wechselbeziehungen zwischen alten Instrumenten, barocker Musik, moderner Operette und zeitgenössischen Chansons. Ein frühes Crossover entstand, durchaus eigenwillig und sicherlich noch nicht im heutigen Sinnen „historisch informiert“, sondern unvoreingenommen experimentier- und entdeckerfreudig.
Instrumente wie die Theorbe wurde wiederbelebt, unter anderem durch einen gewissen Gaston Dumestre, Sänger im Kabarett Le Chat Noir, der sich darauf zu seinen Chansons réalistes selbst begleitete. Yvette Guilbert, die gefeierte Kabarett-Sängerin, wurde 1904 in das Haus der Familie Casadesus, Gründer der Société des Instruments Anciens, eingeladen: Barockmusik und die Klänge des Café-Hauses ergaben eine eigenwillige Melange. Auch konnte es geschehen, dass in der Revue Paris qui chante eine Arie von Scarlatti Bekanntschaft mit der handfesten Sprache von Aristide Bruant und Paulin machte. Und das Cembalo fand immerhin in einer modernisierten, wenn auch klanglich unbefriedigenden Konzertflügel-Variante sein Publikum.

Von dieser Ära wurde das neue Album von „Le Poème Harmonique“ inspiriert. Unter seinem Leiter Vincent Dumestre (ebenfalls Theorbist und ein Nachfahre von Gaston) und mit der charismatischen Mezzo-Akteurin Stéphanie d’Oustrac als Gesangspartnerin wurde ein epochen- und stilübergreifendes Programm zusammengestellt, das an jenen Pariser Meltingpot und seine Musiker:innen erinnert. Cabaret und Salon, diverse Genres und Stile kommunizieren miteinander.

Eine Art "Story" gibt es auch: Die Stücke zeichnen Szenen aus dem Leben einer Frau und Sängerin nach, die sich vergangene Liebschaften und Beziehungsdramen erinnert. Stationen dieser Reise in drei Teilen steuern neben barocken Meistern wie Monteverdi und Cavalli vor allem die Chanson-Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts bei. Unter anderem von Paul Marinier, Paul Delmet, Raymond Legrand oder Léon Fossey stammen die elegisch-amourösen, frivolen oder witzigen Stücke, auf denen denn auch der Schwerpunkt des Albums liegt.

Zwar kann man sich kaum einen größeren Abstand denken als zwischen dem brodelnden Arianna-Lamento Monteverdis und den Schlüpfrigkeiten eines Raymond Legrand. Doch die Ausführenden, allen voran Stéphanie d’Oustrac, sorgen für einen Zusammenhalt, der letztlich in der Leidenschaft für diese Musik wurzelt, deren Emotionen, so oder so, bis zum Siedepunkt erkundet werden. Insbesondere d’Oustrac, die sich kürzlich noch auf der CD „Merd' v'la L'hiver“ wieder einmal als begnadete Vokalperformerin erwiesen hat, nimmt einen mit auf diese Reise. Ihre Stimme ist, jenseits von Katergorien wie „schön“ oder „hässlich“, stets wahr. Präzise wie ein Seismograph registriert sie noch die feinste emotionale Vibration. Sie entbirgt Klängen wie Wörtern das Erhabene und das Lächerliche, Schönheit, Hingabe, Freude und Schmerz. Mühelos changiert sie zwischen Tragödie und Komödie – wie das Leben halt so spielt.

Unter der inspirierenden Leitung von Vincent Dumestre finden dazu diverse barocke Instrumente und ein Akkordeon geschwisterlich zusammen. Marina Marais "Les Voix humaines" klingt auf letzterem nicht weniger stimmig als wie auf der Gambe - wer hätte das gedacht!



Georg Henkel



Trackliste
Ted Grouya: J'ai perdu ma jeunesse
Marin Marais: Les Voix humaines
Anonymus: Dans mon jardin a l'ombre; La Fille au roi Louis
Johann Vierdanck: Canzona C-Dur
Claudio Monteverdi: Lasciate mi morire (Lamento d'Arianna)
Francesco Cavalli: Lasso, io vivo aus "L'Egisto"
Paul Marinier: D'elle a lui
Paul Delmet: Les Petits Paves
Charles Andre Cachan: Ou sont mes amants
Raymond Legrand: Les Nuits d'une demoiselle
Leon Fossey: Les Canards tyroliens
Ralph Carcel: Le Tango stupefiant
Emile Carrara: Mon amant de Saint-Jean
Besetzung

Stépahie d’Oustrac, Mezzo-Sopran

Le Poème Harmonique

Vincent Dumestre, Theorbe & Leitung


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