Dream Theater

Falling Into Infinity Demos, 1996-1997


Info
Musikrichtung: Progressive Metal

VÖ: 13.5.2022 (9.9.07)

(Inside Out / Sony)

Gesamtspielzeit: 140:22

Internet:

http://www.insideoutmusic.com
lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net


Nachdem das Awake-Album den Überraschungserfolg von Images And Words nicht hatte wiederholen können und A Change Of Seasons trotz seiner Länge als EP deklariert war und damit strukturell aus dem Rahmen fiel, standen Dream Theater vor der Situation, dass sie sich einerseits selbst klar werden mußten, in welcher Richtung sie weiterarbeiten wollten, dass aber andererseits ihr damaliges US-basiertes Label Wert darauf legte, „kommerziell verwertbares Material“ geliefert zu bekommen. Das, was das Quintett mit Keyboard-Neuzugang Derek Sherinian dann aber als Demo konzipierte, fand nicht den Beifall der Labelentscheider: in der Länge ein Doppelalbum, stilistisch aber trotz einiger Anleihen am damaligen zeitgeistigen modernen Rock bzw. Metal und einer gewissen Zurückhaltung beim Härtefaktor so gelagert, dass man das dem Mainstreamhörer nicht verkaufen zu können glaubte – obwohl schon die „Pull Me Under“-Überraschungserfolgssingle durchaus nicht dem entsprach, was der Mainstreamhörer üblicherweise zu konsumieren pflegte. Ergo durfte die Band das Material nicht in dieser Form aufnehmen, und nach schier ewigem Tauziehen bewegten sich beide Seiten jeweils ein Stück aufeinander zu, und es entstand letztlich der auf eine Einzel-CD passende Elf-Tracker Falling Into Infinity. Dessen Material zerfiel in drei Kategorien: Songs, die in der Demozeit noch nicht als eigenständige solche existierten, überarbeitete Demosongs sowie Songs, die mehr oder weniger 1:1 vom Demo übernommen wurden. Das Werk wurde als erstes Dream-Theater-Album von der Öffentlichkeit nicht mehr mit einhelligem Beifall aufgenommen und führt bis heute ein Schattendasein.
Ein Jahrzehnt später, 2007, fand das Demomaterial über das bandeigene Label Ytse Jam Records dann doch noch den Weg an die Öffentlichkeit, und im Rahmen der Lost Not Forgotten Archives-Serie ist der Doppeldecker aktuell wiederveröffentlicht worden, serientypisch zwar mit dem kompletten Songmaterial, aber ohne Mike Portnoys erhellende Liner Notes. Aber schon die reine Mathematik liefert erste Anhaltspunkte über die Struktur: Die Doppel-CD enthält 16 Tracks, die finale Albumversion aber nur 11 – also müssen hier mindestens fünf in dieser Form unbekannte Nummern versteckt sein. Da allerdings der Albumtrack „Hell’s Kitchen“ zu Demo-Zeiten noch kein eigenständiges Instrumentalstück, sondern ein Bestandteil von „Burning My Soul“ war, steigert sich die Zahl der Unbekannten sogar auf sechs. Wer die Fanclub-Weihnachtsgabe Cleaning Out The Closet von 1999 besitzt, kennt auch diese schon, aber dieses Werk soll auf etwas über 5000 Exemplare limitiert gewesen sein, also geht die Kenntnis nicht über einen Die-Hard-Fankreis hinaus.
Mit zwei solchen quasi Unbekannten hebt die erste CD gleich an. In „Raise The Knife“ läßt John Petrucci eingangs seine Gitarre flackern und röhren, wie das in den Mittneunzigern auch diverse New-Metaller zu tun pflegten – der Song stellt dann aber keine neuen Härterekorde auf, sondern entwickelt sich zu einer vielschichtigen mittelharten Nummer im einerseits typischen Dream-Theater-Gestus, andererseits aber dieses gewisse (post-)grungige Feeling schon transportierend, das dann auch auf dem Album gelegentlich auftauchen sollte, wenngleich natürlich im bandeigenen Gewand. „Raise The Knife“ wurde Jahre später für die „Score“-Orchestertour entstaubt und findet sich auch auf der zugehörigen Live-CD, aber die Studioversion konnte zuvor nur auf der erwähnten Fanclub-CD nachgehört werden. „Where Are You Now?“ blieb abgesehen von dieser gleichfalls in den Archiven und ist etwas zurückhaltender, aber ansonsten dem Opener durchaus nicht unähnlich. Das letztlich auf dem Album gelandete Material beginnt mit „Take Away My Pain“, dessen Albumfassung etwas emotionaler anmutet, das aber seinen eskapistischen Charakter auch in dieser Demofassung schon deutlich machen kann. Interessanterweise sieht das Mike Portnoy eher anders herum ...
Von dem Material, das letztlich den Weg auf das Album fand, hat „You Or Me“ die wohl umfangreichsten Änderungen erfahren – und hier haben wir mal ein Beispiel, wo die Einflußnahme des Labels den gängigen Unkenrufen (nicht nur denen Portnoys) zum Trotz tatsächlich zu einer markanten Verbesserung geführt hat. Der Band wurde nämlich Desmond Child als Gastsongwriter oktroyiert, der für diese Nummer einen neuen Refrain geschrieben hat – und das ist gut so, ist der neue doch viel eindringlicher und auch einprägsamer als der irgendwie völlig gelangweilt wirkende alte, den wir hier nun zu hören bekommen. Inwieweit sich dadurch auch die Grundaussage geändert hat, wäre mal noch genauer zu analysieren, aber immerhin erhielt der Song auf dem Album dann mit „You Not Me“ sogar einen neuen Titel, und ebenjener Refrain gehört neben dem von „Peruvian Skies“ zu den Momenten, die sich vom Albummaterial am tiefsten ins Langzeitgedächtnis eingeprägt haben, was eindeutig für Child spricht. Außerdem wurde der Song gestrafft: Von den sechseinhalb Ur-Minuten sind auf der Albumversion nur noch knapp fünf übrig. Dass der Band allerdings trotzdem auch viel an der Urfassung gelegen war, belegt der Fakt, dass sie durchsetzten, diese Fassung als B-Seite auf die Hollow Years-Single zu packen, so dass im Gegensatz zu den komplett gestrichenen Nummern eine gewisse Bekanntheit unter der Anhängerschaft erreicht werden konnte.
Die hübsche Ballade „Anna Lee“, deren Endfassung, wie Ex-CrossOver-Kollege Tobias Audersch zu Recht bemerkte, ein paar Savatage-Parallelen mit sich herumträgt (ohne dass das als Vorwurf gemeint war), tut ebenjenes auch schon in der Demofassung. „Burning My Soul“ wiederum gehört zu den fünf Albumnummern, die auch schon auf der „Escape From The Studio“-Tour live angetestet wurden und sich daher auf der Old Bridge New Jersey-CD wiederfinden. Hier finden sich gleichfalls latente Modern-Rock-Einflüsse, die Nummer enthält noch die später als „Hell’s Kitchen“ verselbständigten Passagen, und im Finale der Demofassung brüllgurgelkreischt jemand so heftig, dass man um seine Gesundheit fürchtet und sich fragt, ob Dream Theater ihr Spektrum jetzt auch in Richtung Black Metal ausdehnen wollen.
Das tun sie natürlich auch in der nächsten nicht fürs Album berücksichtigten Demonummer nicht: „The Way It Used To Be“ ist im Zweifel eher Progrock als Progmetal, schleppt einige Rush-Einflüsse mit sich herum, könnte Inspirationsquelle für Muse gewesen sein, falls die die Nummer schon früh gekannt haben, und demonstriert, dass Portnoy durchaus auch mal länger einen recht basischen Beat durchhalten kann, wenn er das denn will – passenderweise packt Petrucci zum Schluß auch noch ein bluesverdächtiges Solo aus. Von den fünf Fanclub-CD-Unbekannten könnte das noch eine der bekannteren Nummern sein, denn sie wurde als Studiofassung ebenfalls auf die B-Seite der Hollow Years-Single gepackt. „Lines In The Sand“ schließt die erste CD ab – ein typisches Dream-Theater-Epos, mit einer sehr sehnsuchtsvollen Gitarrensololinie von Petrucci versehen, wenngleich Sherinians Tastenarbeit von der Grundlage her die wichtigeren Impulse setzt, und zwar sowohl beim Grand Piano als auch mit der Hammondorgel. Auch John Myungs Baß darf in den wenigen treibenden Momenten an die Oberfläche dringen und dort wichtige strukturelle Aufgaben erfüllen, was der stille Musiker sonst ja eher im Hintergrund tut.
CD 2 hebt mit dem druckvoll-treibenden „Just Let Me Breathe“ an, dessen galoppierender Rhythmus den Vorwärtsdrang nochmal verstärkt – hier schreibt sich Portnoy lyrisch den Frust über den Druck des Labels von der Seele. Und obwohl es eigenartig klingt, muß man dem Label für diesen Druck sogar dankbar sein – ohne „Just Let Me Breathe“ wäre das Album nämlich doch einen Tacken zu entspannt ausgefallen. Das soll nicht bedeuten, die ruhigeren Nummern würden nichts taugen – den Gegenbeweis tritt gleich die Halbballade „Peruvian Skies“ an, deren Seelenverwandtschaft zu Metallicas „Enter Sandman“ man ihr nicht übelzunehmen geneigt ist, zumal diese erstens im wesentlichen auf den harten Mittel- und Finalteil fokussiert ist und zweitens die Band so offen damit umging, dass sie bei Livedarbietungen kurzerhand Metallica-Teile mit einjammte. Und dann wäre da noch dieser Refrain, der zweite hochgradig eindringliche neben „You Not Me“ und im Langzeitgedächtnis ganz tief verankert – und er funktioniert sowohl in der balladesken Ausprägung im vorderen als auch in der harten Variante im hinteren Teil, was ja auch keine Selbstverständlichkeit darstellt. „Trial Of Tears“ landete auf dem Album letztlich als Schlußsong, wo dieses große Epos auch gut aufgehoben ist, abermals zwischen Verharrungen und einigen Ausbrüchen pendelnd, wobei Portnoy hier bisweilen einen unwiderstehlich marschierenden Gestus ansetzt, der dem Song etwas Treibendes implantiert, das so in dieser Form in diesem Material eher selten vorkommt.
„Cover My Eyes“ ist dann der nächste Song, der in den Archiven blieb. Das verwundert ein wenig, hätte er dem Album doch noch etwas Tempo und Druck verleihen können, wenngleich Portnoy phasenweise (so gleich zu Beginn) den Rhythmus so verschleppt, dass man unwillkürlich „Roots, bloody roots“ mitzusingen geneigt ist, wobei Petrucci aber eine so ganz unmetallische Gitarrenarbeit dazugibt und auch Sherinians Hammonds von der ganzen Biopanturahead-Posse nicht eben goutiert worden wären. Mit nur knapp dreieinhalb Minuten ist das übrigens eine der kürzesten eigenständigen Dream-Theater-Nummern, und hätte Desmond Child hier noch einen Hitrefrain reingezaubert, wer weiß, was dann passiert wäre ... Nur auf der 1999er Fanclub-CD und als Livemitschnitt zusätzlich auf der 1998er Fanclub-Weihnachts-CD gelandet wäre sie jedenfalls sicher nicht.
Als Single ausgekoppelt wurde statt dessen aber letztlich „Hollow Years“, eine hübsche Ballade, die indes kein Erfolg wurde, obwohl James LaBries Stimme hier schon in der Demoversion eine sehr angenehme weiche Ausprägung annimmt, die Portnoys Versuche, in der zweiten Strophe die Nummer zu dramatisieren, wirkungsvoll vereitelt, und das ist auch gut so. Petrucci greift hier mal zur Akustischen und macht seine Sache auch dort richtig gut, und irgendjemand singt streckenweise eine richtig starke Zweitstimme im Hintergrund. Eine markante Rolle in der Letztfassung bekam auch „New Millenium“ – es wurde nämlich der Opener der Scheibe. Die Demofassung wirkt mit den Sitar-Breaks noch etwas exotischer als die Albumversion und ist vom Schrägheitspotential durchaus mit „Raise The Knife“ zu vergleichen (das freilich nicht zwingend den Opener in der von der Band konzipierten Version hätte darstellen sollen, sondern auf dieser Veröffentlichung hier nur deswegen ganz vorn steht, weil es als erstes geschrieben und in der ersten Demosession aufgenommen worden ist), umschmeichelt das Ohr des Hörers aber immer wieder mit melodisch-griffigen flüssigen Uptempo-Passagen und konzentriert das natürlich auch hier gelegentlich aufblitzende Gefrickel auf bestimmte Elemente. Und der treibende Halbakustik-Soloteil mit dem „Schweinchen“ jeweils zwischen den Phrasen hat sogar richtig Charme.
Damit sind jetzt alle auch in der Endfassung vertretenen Demosongs durch, es kommen noch zwei Nummern. In den Archiven blieb „Speak To Me“, das, wäre es in dieser Form offiziell herausgekommen, das Spektrum von Dream Theater in eine überraschende Richtung ausgedehnt hätte – das ist nämlich Wave-Pop, und zwar mit einer so basischen Schlagzeugarbeit, dass man bezweifelt, hier wirklich Portnoy zu hören, sondern (auch vom Sound her, der sich indes nach Minute 3 etwas ändert) eher an einen Computer glaubt. Auch hier gibt es schon auf der 1998er Fanclub-CD eine Livefassung, wo man möglicherweise auf interessante Unterschiede stoßen könnte.
In eine völlig andere Richtung gehen die letzten reichlich 20 Minuten von CD 2. Nachdem die auf Images And Words verewigte Fassung von „Metropolis“ den Zusatz „Part 1“ erhalten hatte, wurde die Band in vermutlich jedem Interview gefragt, wann denn mit Part 2 zu rechnen sei, so dass sie, obwohl ein solcher eigentlich gar nicht geplant und das Ganze eher als Scherz gedacht gewesen war, letztlich doch Ideen zu sammeln begann. Was wir hier nun zu hören bekommen, ist ein instrumentales Durchspiel dieser Ideen als Proberaummitschnitt. Für Kenner der Band ist zum einen spannend, wo die Instrumentalisten in welcher Form an Ideen aus dem ersten Teil anknüpfen, und zum anderen wird so mancher auch Spaß an einer Post-Mortem-Analyse finden. Part 2 entwickelte sich bekanntermaßen nicht zu einem eigenständigen Song, sondern zu einem ganzen Album, dem auf Falling Into Infinity folgenden Metropolis Part 2: Scenes From A Memory, und von den reichlich 20 Minuten hier fand so manches auch an verschiedenen Stellen der Albumfassung Verwendung. Ob das tatsächlich eine am Stück aufgenommene Proberaumsession ist oder ob jemand im nachhinein verschiedene Teile aneinandergeschnitten hat, müssen Kenner der Originalsituation beurteilen – das Ganze funktioniert jedenfalls als „Song“ erstaunlich gut, und 20minütige Instrumentalstücke ist etwa der Postrockfreund heutigentags ja sowieso gewohnt und wendet sich nicht von vornherein gähnend ab. Nur mit einem richtigen Finale darf man hier nicht rechnen – der Mitschnitt wird irgendwann einfach ausgeblendet. Und eine klassische songinterne Dynamik gibt es auch nicht, was bei einer Ideensammlung auch nicht verwundert.
So enthält Falling Into Infinity Demos letztlich in summa fast eine ganze Stunde bisher nicht regulär bzw. zumindest im Albenkontext veröffentlichtes Material – und während man etwa bei Awake Demos nach drei Durchläufen doch eher wieder zum Original zurückkehrte, ist diesem Doppeldecker hier durchaus häufigeres Verweilen im Abspielschacht zuzutrauen, zumal man auf diesem Weg neben der Erforschung des unbekannten Materials auch das „Mauerblümchen“ im Dream-Theater-Schaffen wieder neu entdecken kann. Ob man dann letztlich eher dieses oder eher den vorliegenden Doppeldecker öfter in den Player schiebt, ist eine in diesem Falle durchaus nicht ganz so klar zu entscheidende Frage.



Roland Ludwig



Trackliste
CD 1
1. Raise The Knife (11:40)
2. Where Are You Now? (07:27)
3. Take Away My Pain (06:49)
4. You Or Me (06:24)
5. Anna Lee (06:36)
6. Burning My Soul (08:57)
7. The Way It Used To Be (07:47)
8. Lines In The Sand (13:32)

CD 2
1. Just Let Me Breathe (05:24)
2. Peruvian Skies (06:47)
3. Trial Of Tears (12:54)
4. Cover My Eyes (03:23)
5. Hollow Years (06:26)
6. New Millennium (08:19)
7. Speak To Me (06:25)
8. Metropolis (Part 2) (Live Rehearsal Version) (21:25)
Besetzung

James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Derek Sherinian (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>