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Reviews

Dream Theater

Old Bridge, New Jersey (1996)


Info

Musikrichtung: Progressive Metal

VÖ: 11.11.2022 (2006)

(Inside Out / Sony)

Gesamtspielzeit: 127:36

Internet:

http://www.insideoutmusic.com
lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net

1996 hatten Dream Theater Material für ein neues Doppelalbum fertig, konnten dieses aber nicht aufnehmen – das Label stellte sich quer, zeigte sich mit den Verkaufszahlen von Awake unzufrieden (für Progmetalverhältnisse waren immer noch immens viele Exemplare über den Ladentisch gegangen, aber halt zumindest auf dem US-Markt nur halb so viele wie beim durch den unerwarteten Single-Erfolg „Pull Me Under“ gepushten Images And Words) und forderte single- und radiotauglicheres Material ein, was wiederum bei der Band nur bedingt auf Gegenliebe stieß. Die Situation war gegen Ende des Jahres 1996 also ziemlich verfahren, und um nicht im heimischen Proberaum zu versauern, buchten Dream Theater kurzerhand ein paar Gigs an der Ostküste der USA, die sie ironisch „Escape From The Studio Tour“ tauften und womit sie auch der Anhängerschaft ein Zeichen geben wollten, noch am Leben zu sein – wir befinden uns wohlgemerkt in einer Zeit ohne Social Media und mit erst ganz allmählich Verbreitung findendem Internet, und da lief die Kommunikation zwischen Musikern und Fans noch auf ganz anderen Ebenen als heutzutage, wo man bedarfsweise mehrmals täglich seinen Status auf Facebook ändern und neue Tiktok-Videos hochladen kann. Der Gig am 14.12.1996 im Birch Hill Night Club in Old Bridge, New Jersey wurde mitgeschnitten, erschien als Doppel-CD in der „Lost Not Forgotten Archives Series“ zunächst 2006 über das bandeigene Label Ytse Jam Records und nun noch einmal als informationstechnisch wie üblich spartanischer Re-Release bei Inside Out.
1995 war allerdings bereits eine außerplanmäßige CD von Dream Theater herausgekommen, nämlich die A Change Of Seasons-EP, die es mit dem 23minütigen Titeltrack und vier Live-Covernummern auf fast eine Stunde Spielzeit brachte. Das Akustikintro von „A Change Of Seasons“ dient denn auch in Old Bridge als Showintro vom Band, aber wer auf eine Komplettaufführung tippt, der irrt: Von den sieben Teilen spielen Dream Theater insgesamt vier, aber auf drei Blöcke in der Setlist verteilt, so dass zu Beginn nach den Teilen I und II erstmal das gewaltige Doppel aus „The Mirror“ und „Lie“ folgt, das live nicht ganz so schroff wirkt wie in der auf Awake konservierten Version: Erstens fehlen naturgemäß unter John Petruccis Gitarrensoli die Riffs, die für einen guten Teil der Schroffheit verantwortlich zeichnen, und zweitens scheint die Band auf der Bühne einen Heidenspaß zu haben – Sänger James LaBrie bricht jedenfalls gleich mehrfach in Gelächter aus und muß sich arg zügeln, um wieder zurück in die Gesangsspur zu finden.
Was die Setlist seinerzeit musikhistorisch bedeutend machte und partiell noch heute macht, ist der Umstand, dass das Quintett die Gelegenheit nutzte, einiges vom neu geschriebenen Material live anzutesten. Das war in der Frühzeit die übliche Vorgehensweise gewesen, aber spätestens mit Awake mußte diese Praxis aufgegeben werden, weil sie sich überwiegend nicht mehr logistisch realisieren ließ. Nun aber saß die Band wie beschrieben auf Kohlen und brannte darauf, die im eigenen Saft schmorenden Nummern irgendwie nach draußen zu bringen – dass das nächste, letztlich Falling Into Infinity betitelte Album dann 1997 doch noch aufgenommen werden konnte, wenngleich nicht ganz in der von der Band ursprünglich angedachten Form, das war Ende 1996 noch nicht abzusehen. Und so fanden gleich fünf der neuen Kompositionen den Weg in die Setlist, beginnend an Position 5 mit „Burning My Soul“, das deutlich macht, dass die Band durchaus bereit war, stilistisch gewisse Kompromisse einzugehen und die seinerzeitigen modernen Strömungen in der US-Rockmusik mit einfließen zu lassen, freilich in ihrer ganz ureigenen Kompositionsweise. Das hatten sie schon auf Awake eben mit dem „The Mirror“-/„Lie“-Brocken gezeigt, und in „Burning My Soul“ baut Petrucci nun Riffs ein, die auch die Grooverocker und Postgrunger hätten erdenken können, wozu Mike Portnoy ein paar Halftimedrums gesellt, freilich eingebettet in viele seiner typischen Wirbel. Besonders deutlich wird diese Herangehensweise in „Just Let Me Breathe“, wobei sie hier eher sarkastisch gemeint sein dürfte, da Texter Petrucci in diesem Song genau den Druck seitens des Labels geißelt, „kommerzielle“ Musik abzuliefern. Die Arpeggien von Petrucci ab Minute dreieinhalb und die dazwischengeworfenen Keyboardsoli von Derek Sherinian symbolisieren dann offenkundig Streitgespräche zwischen Bandmitgliedern und Plattenfirmenmitarbeitern, Zwischen diesen beiden Nummern steht noch eine halbe neue, zumindest in dieser Hälfte bisher nicht im Studio konservierte: „The Killing Hand“ hat ein reichlich zweiminütiges Instrumentalintro namens „Another Hand“ verpaßt bekommen, das zwar das extrem klaustrophobische Feeling des 1989er Studio-Originals auch nicht reproduzieren kann (das kann niemand), aber zumindest zur etwas robusteren Livefassung paßt. Nur an das dortige neue Zentralbreak mit Orchestertürmen und Pseudo-Vokalisen hat sich der Rezensent bis heute nicht gewöhnt. Dass LaBrie im extrem hohen Mittelteil schon damals seine Schwierigkeiten hatte, ist ebenfalls nicht zu ändern – aber wenn man diesen Teil in seiner völligen Ergreifungsstruktur hören möchte, bleibt einem immer noch die Studioversion mit Charlie Dominici am Mikrofon.
Dass auch eine bereits veröffentlichte Studiofassung Dream Theater nicht davon abhält, einen Song nochmal umzugestalten, zeigt „Caught In A Web“ (haben Nanowar Of Steel dort die Geräuschkulissenidee für „Ironmonger“ her?), was seinen auffälligsten Ausdruck in der veränderten Rhythmik des Refrains findet. Die Nummer scheint im Publikum sehr beliebt zu sein, wie nicht nur der laute Jubel am Ende zeigt, sondern auch der Umstand, dass LaBrie im letzten Refrain das Mikrofon in die Fanreihen hält und diese einen Teil des Gesanges übernehmen läßt. Bei den fünf neuen Nummern ist die Lage naturgemäß umgekehrt, und man kann einerseits auf Falling Into Infinity nachhören, welche Veränderungen die Studioeinspielungen letztlich noch erfahren haben, andererseits aber auch die Livefassungen mit den zwischenzeitlich gleichfalls veröffentlichten originalen Demofassungen (Review folgt) vergleichen. „Peruvian Skies“, „Lines In The Sand“ und „Take Away My Pain“ bilden den zweiten Block der Neulinge, unterbrochen lediglich von „Pull Me Under“. Dass das Akustikintro von „Peruvian Skies“ ein wenig Motivverwandtschaft zum Einleitungspart einer gewissen Nummer namens „Enter Sandman“ zeigt, ist zumindest dem Rezensenten bisher noch nie aufgefallen. Und das Riff am Eingang des harten Parts, hier bei Minute viereinhalb, ist der große Bruder des „Enter Sandman“-Hauptriffs. Klar, dass Dream Theater eine grundsätzliche Affinität zu Metallica hegen, ist allerspätestens bekannt, seit sie 2002 das komplette Album Master Of Puppets als Zugabe spielten, womöglich auch schon seit 1995, als sie „Damage Inc.“ in die Setlist des Coverabends bei Ronnie Scott’s integrierten – aber das hier so deutlich durchzuhören hat den Rezensenten doch überrascht (er kannte allerdings auch die später festgehaltene Livefassung, wo kurzerhand direkt „Enter Sandman“ integriert worden ist, bisher nicht und hat diesen Fakt erst jetzt im Zuge der Reviewerstellung nachgelesen). Dass die neuen Nummern noch nicht hundertprozentig gefestigt waren, zeigt der ungewollt schräge Schlußteil von „Peruvian Skies“ mit seiner schaurig-schönen Diskrepanz aus Lead- und Backingvocals. Die Laune verdorben hat das offenkundig niemandem: In „Pull Me Under“ bricht LaBrie während des ersten Refrains schon wieder in Gelächter aus. Den zweiten Refrain darf dann das Publikum erneut selbst übernehmen – es ist in der Aufnahme allgemein recht weit in den Hintergrund gemischt, aber ein grundsätzliches Livefeeling zu transportieren, das schafft das Material in dieser Form jedenfalls problemlos. Zu hören gibt es von „Pull Me Under“ übrigens die Version mit dem abrupten Schluß.
Mit „Pull Me Under“ schließt CD 1 ab – die zweite beginnt mit dem 14minütigen „Lines In The Sand“, der längsten hier verewigten Nummer. LaBrie stellt hier explizit den neuen Keyboarder Derek Sherinian vor, der nach Kevin Moores Ausstieg und einer kurzen Episode mit Jordan Rudess seit 1994 an den Tasten stand, aber mit Ausnahme von „A Change Of Seasons“ noch nichts im Studio Aufgenommenes mit der Band veröffentlicht hatte. Das Intro mit Sherinians eher atmosphärischer Arbeit und einigen wenigen harten Kanten erinnert vom Feeling her entfernt an das „Courvoisier Concerto“ von MSG und dessen Überleitung in „Lost Horizons“, allerdings ohne die markante Leadgitarre. Die Worte „Stream Of Consciousness“ kommen auch schon in dieser Frühfassung vor – sie sollten ursprünglich den Titel des neuen Albums bilden, der dann aber doch „Falling Into Infinity“ wurde, während „Stream Of Consciousness“ später als Titel eines Instrumentalstücks auf dem Train Of Thought-Album wieder auftauchte. Jedenfalls erntet auch „Lines In The Sand“ am Ende reichlich Jubel, obwohl die Nummer noch niemand gekannt haben dürfte und sie auch nicht gerade zu den allerzugänglichsten im Repertoire der Band zählt, allerdings durchaus im gewohnten Rahmen bleibt. Das kommerzielle Potential der Halbballade „Take Away My Pain“ nicht zu erkennen stellt den Verantwortlichen von damals allerdings kein gutes Zeugnis aus – gerade der Akustikpart mit Petruccis leidender Gitarre über LaBries fast flüsterndem Gesang weiß hoch zu punkten, und auch sonst ist der Emotionenfaktor in beträchtlicher Höhe angesiedelt, die Melodien umgarnen einen förmlich.
Das Finale des regulären Sets wird dann wieder von zwei „A Change Of Seasons“-Teilen gerahmt, nämlich IV und VII. Ersterer hat eine neue instrumentale Hinleitung verpaßt bekommen, und man freut sich, in seinem Verlauf auch mal den stillen John Myung mit seinem Baß ins Rampenlicht gestellt zu sehen. Den „Goodbye“-Einwurf übernimmt hier das Publikum, so dass LaBrie seine Stimme längere Zeit schonen kann, denn das folgende „Ytse Jam“ als zweiter Beitrag des Debütalbums ist bekanntlich von vornherein instrumental gehalten. Dass der Übergang aus dem vierten „A Change Of Seasons“-Teil allerdings gerade in dem Moment erfolgt, als die Spannung kurz vor der Klimax ist, mutet wie ein Coitus interruptus an – darüber kommt man irgendwie erst hinweg, als man auch in „Ytse Jam“ Myung wieder solieren hört, diesmal in für sein Instrument ungewöhnlichen Höhen. „Learning To Live“ hat dann einige neue Instrumentalpassagen verpaßt bekommen, und LaBries Stimme zeigt gegen Ende diverse Anzeichen der Beanspruchung, aber das Feeling bleibt ebenso positiv wie im Finale mit dem letzten Teil von „A Change Of Seasons“, auch wenn diesem hier in der Liveaufnahme ein bißchen der letzte Kick der bombastischen Umhüllung des Hörers fehlt.
Was kann hier noch als Zugabe kommen? Klar, der erste Teil von „Metropolis“ – den zweiten, in einer Urfassung bzw. Ideensammlung schon existierenden packen Dream Theater dann doch nicht aus (und er landete dann ja auch nicht auf Falling Into Infinity, sondern wurde statt dessen zu einem ganzen Album ausgebaut). Aber der erste wird auch mit etlichen neuen Ideen angereichert, macht Hörspaß wie eh und je, LaBrie und Portnoy frozzeln in der Abmoderation, als letzterer anfängt, viele Wirbel unter den atmosphärischen Part zu legen, zu dem LaBrie spricht, die Gesangsstimme hat sich auch wieder etwas erholt (trotz leichter Probleme im Grande Finale), und so haben wir hier reichlich zwei Stunden Musik vom Feinsten, mit einem sehr guten Livesound ausgestattet übrigens und zudem wie eingangs erwähnt auch heute noch mit einem gewissen historischen Wert, was dem Prädikat „Musikalisch wertvoll“ voll zur Geltung verhilft. Auch hier gilt natürlich, dass sich Einsteiger erstmal die Studioalben zulegen sollten, aber ein Livewerk wie dieses ist dann schon der nächste logische Schritt.



Roland Ludwig

Trackliste

CD 1
1. A Change Of Seasons Pt. I (03:49)
2. A Change Of Seasons Pt. II (03:04)
3. The Mirror (06:50)
4. Lie (07:27)
5. Burning My Soul (08:23)
6. Another Hand/The Killing Hand (13:41)
7. Just Let Me Breathe (05:17)
8. Caught In A Web (06:39)
9. Peruvian Skies (06:39)
10. Pull Me Under (07:22)

CD 2
1. Lines In The Sand (14:15)
2. Take Away My Pain (07:19)
3. A Change Of Seasons Pt. IV (04:47)
4. Ytse Jam (06:10)
5. Learning To Live (11:43)
6. A Change Of Seasons Pt. VII (03:15)
7. Metropolis (Part 1: The Miracle And The Sleeper) (12:32)

Besetzung

James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Derek Sherinian (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)
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