MDR-Sinfonieorchester und MDR-Rundfunkchor mit Dvořáks Neunter und Estévez’ Cantata Criolla
Am Abend zuvor ist der alljährliche MDR-Musiksommer eröffnet worden, mit einem Konzert in Gotha, das auch schon eines der beiden Werke enthielt, die an diesem Sonntagabend nun als Abschluß der MDR-Indoor-Konzertsaison erklingen, nämlich dasjenige, das im gut gefüllten Großen Saal des Gewandhauses als erstes auf dem Programm steht: die Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvořák – ein „Hit“, dem man kaum noch neue Seiten abgewinnen kann. Oder doch? Dennis Russell Davies schickt das MDR-Sinfonieorchester auf einen zumindest wenig ausgetretenen Pfad, konstatiert man am Ende. Das beginnt schon in der Adagio-Einleitung des ersten Satzes. Das zarte Tupfen geht noch als normal durch, aber schon hier fällt eine markante Blockhaftigkeit der Gestaltung auf, die sich auch in den herausfahrenden Streichern findet, zumal der Dirigent die Generalpausen auch bewußt groß denkt. Mehr Fluß legt er erst ins berühmte Hauptthema des Allegro-molto-Teils, aber die Neigung zu starker Akzentuierung bleibt auch dort erhalten, und selbst das Seitenthema nimmt er ziemlich scharf, wenngleich er nicht vergißt, ihm auch eine gehörige Portion Lieblichkeit einzupflanzen und die behutsame Tupfung vom Beginn wieder aufzunehmen. Der Klang geht nur selten konsequent in die Breite, sondern wird stärker kanalisiert, die Abgründe im Tutti bleiben mäßig tief, und was Davies in puncto Dramatikentwicklung kann, muß nicht näher betont werden, zumal hier geschickte Tempovariationen hinzutreten. Die Schlußwirkung ist derart überzeugend, dass einige Besucher schon zu klatschen beginnen, was zugleich dafür spricht, dass hier nicht nur das übliche konzerterfahrene Publikum am Start ist. Aus dem Largo an zweiter Position macht Davies eher ein Adagio, und zwar ein richtiges feistes, wie schon der feierliche Blechchoral verdeutlicht, bei dem Bruckner grinsend um die Ecke lugt. Die Sanglichkeit des Englischhornsolos pflückt gleichfalls sehr hoch hängende Trauben, „Lieblichkeit!!“ steht dazu auf dem Notizzettel des Rezensenten, und der Spannungsaufbau gelingt schon hier. Was die gestopften Hörner abliefern, kommt scheinbar völlig aus dem Jenseits, selbst kurze Tempoausbrüche bleiben hochfragil, die kurze Tutti-Attacke bricht praktisch aus dem Nichts hervor, und in die Schlußspannung hustet netterweise mal keiner rein. Im Scherzo entwickelt sich munteres Holzbläsergezwitscher, aber die gewünschte Schärfe im Hauptthema ist schnell da, während der Seitengedanke das Kunststück fertigbringt, geerdet und doch beschwingt zu wirken. Das Trio nimmt Davies nur scheinbar gemütlich, sondern bringt eines an unterschwelliger, bisweilen aber auch offenkundiger Schärfe hinein, und die Reprise gerät anfangs etwas entspannter, gewinnt nach hinten heraus aber auch an Schärfe hinzu. Im Allegro-con-fuoco-Finale meißelt Davies das Hauptthema förmlich aus Stein und gestaltet den Grundgestus sehr drängend, was natürlich eine prächtige Basis für die diversen Offbeat-Speedattacken bietet und zugleich die wenigen Verharrungen eine maximale Kontrastwirkung entfalten läßt. Selbst im Tutti-Lärm aber erreicht der Dirigent eine sonst selten zu hörende Transparenz, und das, obwohl der Pauker schon die ganze Sinfonie lang ein extrem druckvolles Spiel an den Tag legt, wie es der Rezensent in seiner jahrzehntelangen Konzertpraxis bisher nur selten gehört hat – und er knüppelt trotzdem nicht alles nieder, sondern die Transparenz bleibt erhalten. Im Finale changiert Davies geschickt zwischen Akzentuierung und Tupfen, und das Gesamtwerk erntet enorm viel Jubel, den lautesten davon das Englischhorn und im Anschluß Uta Kreuter aus den 2. Violinen, die mit diesem Werk nach 42 Dienstjahren in den Ruhestand geht. Nach der Pause sitzt sie also nicht mehr mit auf der Bühne. Davies hatte in seiner Anmoderation zu Beginn des Abends ein wundervolles Werk aus Venezuela versprochen (und mehr als nur durch die Blume angedeutet, dass er durchaus noch mehr Musik aus dieser Region spielen möchte), und zwar die Cantata Criolla von Antonio Estévez, eines der Schlüsselwerke der jüngeren venezolanischen Musikgeschichte, 1954 in Caracas uraufgeführt, in Mitteleuropa aber wenig präsent, um nicht von völliger Obskurität zu sprechen – ein wenig ausgetretener Pfad also auch hier, jedoch gleich von vornherein in der Werkauswahl, nicht in der Interpretation begründet. Die etwas über halbstündige Kantate braucht zwei Solisten und einen Chor neben dem Orchester – eine schöne Aufgabe für den MDR-Rundfunkchor also, während für die Soloparts zwei spanische Muttersprachler verpflichtet werden, von denen der eine aus Kolumbien und der andere tatsächlich aus Venezuela stammt. Andrés Agudelo, erstgenannter und im Tenorfach zu Hause, verkörpert dabei den Sänger Florentino, der vom Bariton Gustavo Castillo zu einem Sangeswettstreit nach dem in Venezuela üblichen Copleros-Prinzip herausgefordert wird, bei dem jeder jeweils die letzte Zeile des gegnerischen Vortrags aufgreifen und weiterentwickeln muß. Der Kontrahent entpuppt sich als der Leibhaftige, der im Wettstreit bald die Oberhand gewinnt, aber letztlich von Florentino besiegt wird, indem dieser in seiner letzten Zeile die Heilige Dreifaltigkeit anruft, wozu der Schweflige aus nachvollziehbaren Gründen nicht in der Lage ist. Das Werk ist zweiteilig, wobei der erste Teil den über die ausgedörrten Llanos reitenden Florentino und die ihn umgebende Landschaft beschreibt und sich hierfür sehr viel Zeit nimmt. Das Ausgangsmotiv zieht Davies sehr in die Breite, kann aber seine Unzugänglichkeit trotzdem nicht verbessern – in einen beliebigen Western gepaßt hätte es freilich trotzdem. Die Hitze flirrt über der Steppe, man hört Vögel, Insekten und Pferdegetrappel, und die bedächtige Entwicklung wird allenfalls unterschwellig gestört, indem etwa ein Kontrabaß-Motiv schon Unruhe reinbringt. Das Programmheft enthält den Text sowohl im spanischen Original als auch in deutscher Übersetzung, und man kann anhand dessen noch nicht jeden kleinen Dynamikausbruch nachvollziehen – der erste Auftritt des Gehörnten aber gerät nachvollziehbar dramatisch. Castillo gestaltet die Rolle sehr fordernd, aber auch mit abgründigen Zwischentönen, während Agudelo in großer Geste und nahender Verzweiflung schon hier förmlich auch die ganze Welt umarmen will. Zwischen den beiden Sätzen liegt ein großes, extrem düsteres Zwischenspiel, das sich bis zum brutalen Tutti steigert, bevor eine abermalige Situationsbeschreibung einsetzt, diesmal aber deutlich stärker dramatisiert. Der Chor hat seinen eindringlichsten Moment in der Szene ab „Súbito“, als El Diablo in den Raum tritt und die Situationsbeschreibung in einer großen Fuge der einzelnen Stimmgruppen gestaltet ist, mit Sprechgesang und in fast panischem Tempo. Das Duell selbst erlebt dann markante Begleitungswechsel, was die Stimmung angeht, die sich aber anzugleichen beginnen. Instrumental ist dabei besonders die Rolle der Maracas auffällig, auch das Klavier erfüllt strukturell wichtige Funktionen, und einige Chordamen verwandeln sich in Florentinos letztem Gesang in den Chor der himmlischen Heerscharen, der hintergründig das Geschehen lenkt. Mit einem Paukenwirbel verschwindet der Pferdefüßige in der Hölle, der volle Chor übernimmt den Schlußchoral, und ein breiter instrumentaler Bombastschluß hängt noch dran, den ein kurzer Schlag im 3. Anlauf beendet. Erstaunlicherweise ist das Werk über weite Strecken wenig eingängig, es bieten sich kaum des Merkens würdige Einzelthemen, mit Ausnahme eines öfter wiederkehrenden, das Florentino z.B. kurz vor Ende seines vorletzten Gesanges in „Quién ha vista doro-doro cantando con arrendajo!“ einbaut und das dem Rezensenten diffus aus einem anderen Kontext bekannt vorkommt, dessen konkrete Verortung ihm aber bisher noch nicht eingefallen ist. Der Eindruck als Momentaufnahme aber überzeugt ohne Wenn und Aber, noch dazu in einer meisterlichen Wiedergabe wie dieser, wobei die beiden Solosänger und der Chor den meisten Jubel ernten. Wie es um die Spanisch-Aussprache des letzteren bestellt ist, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen, aber der Chor gehört sowieso zu den Besten seines Faches, ist Auftritte in allen möglichen und unmöglichen Sprachen gewöhnt, und Justus Barleben, der ihn diesmal einstudiert hat, konnte somit auf sehr hohem Niveau ansetzen – und rein gesanglich zieht sich das auf der Orgelempore postierte Ensemble sowieso exzellent aus der Affäre, zumal Davies auch die Balance exzellent gestaltet, so dass alle Sänger entsprechenden Entfaltungsraum haben. „Das hat er wieder fein gemacht“, meint das Ehepaar auf den Plätzen rechts neben dem Rezensenten mit Blick auf den Dirigenten, und diesem Urteil ist uneingeschränkt stattzugeben Roland Ludwig |
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