Jani Liimatainen

My Father’s Son


Info
Musikrichtung: Melodic Metal

VÖ: 06.05.2022

(Frontiers)

Gesamtspielzeit: 58:28

Internet:

http://www.frontiers.it
http://www.facebook.com/janiliimatainenofficial


Jani Liimatainen geriet erstmals mit Sonata Arctica ins Rampenlicht der internationalen Metalwelt – er spielte auf den ersten (und immer noch besten) Werken der Band Gitarre, war allerdings kompositorisch kaum beteiligt, so dass der Genialitätsfaktor zumindest in songwriterischer Hinsicht dort primär Tony Kakko zuzuschreiben war. Bei seinen Seiten- bzw. späteren Hauptbands Altaria oder Cain’s Offering trat der Saitenzupfer dann auch ans kreative Ruder, aber zumindest der dem Rezensenten bekannte Teil des Schaffens von Altaria war lediglich als solide zu bezeichnen, ohne jedoch in genialer Weise Bäume auszureißen. Auch in der Folge kannte man den Gitarristen eher als zuverlässigen Sidekick denn als kreative Lichtgestalt.
Das soll sich nun mit My Father’s Son, Liimatainens erstem Soloalbum, ändern – und das tut es in gewisser Weise auch, denn der Finne bringt ein schwieriges mehrstufiges Kunststück fertig. Zum einen handelt es sich offenbar um ein sehr persönliches Werk, das die Beziehung zu seinem Vater und den Abschied von ihm in Töne bringt. Zum anderen aber hat der in der skandinavischen Szene prima vernetzte Liimatainen für die zehn Songs insgesamt acht Sänger an den Start gebracht und – das ist der eigentliche Clou – den meisten von ihnen einen Song vorgesetzt, der auch ins Schaffen ihrer Hauptbands passen würde. Ähnlich Strukturiertes kennt man von Dave Grohls Probot, aber bei einem Konzeptalbum mit derart persönlichem Hintergrund würde man so etwas erstmal nicht vermuten.
Nun, Liimatainen ist das Wagnis eingegangen – und er hat gewonnen. Natürlich war er klug genug, die Vokalisten in seinem Fall aus dem großen melodischen Zirkel zu holen, um eine gewisse Homogenität des Werkes zu erreichen – zwar ist er durchaus auch in der Welt des melodischen Death Metals unterwegs und half beispielsweise jahrelang seinen Landsleuten Omnium Gatherum live aus, wenn diese gerade mal wieder keinen Zweitgitarristen hatten. Aber deathmetallischer Gesang hätte zum Songmaterial nicht wirklich gepaßt, und so überrascht die Erkenntnis nicht, dass Björn „Speed“ Strid in Gestalt des Openers „Breathing Divinity“ keine Nummer im Stil von Soilwork, sondern eine im Stil des Night Flight Orchestra vorgesetzt bekommen hat, wobei der Finne allerdings einige ungewöhnliche Tonartwechsel hineingezaubert hat, die der Schwede freilich ohne Probleme adaptiert. „All Dreams Are Born To Die“ bringt Tony Kakko ans Mikrofon und klingt dementsprechend nach Sonata Arctica, seltsamerweise allerdings nach deren jüngerem, etwas progressiver angehauchtem Schaffen, als Liimatainen schon gar nicht mehr zur Band gehörte. Das neoklassische Keyboardsolo stammt in diesem Falle gasthalber von Stratovarius-Tastendrücker Jens Johansson, während Liimatainen sonst die Keyboards selbst spielt, die klassischen Piano-Passagen allerdings Jarkko Lahti überläßt.
Acht Sänger bei zehn Songs führen, falls keine Instrumentalstücke dabei sind (das ist hier nicht der Fall), zwangsweise dazu, dass entweder zwei Sänger je zwei Stücke übernehmen oder einer drei Stücke. Von den beiden Optionen tritt die erste ein, und der dem Rezensenten bisher unbekannte Brasilianer Renan Zonta (Electric Mob hat er nicht auf dem Schirm und das Frontiers-All-Star-Projekt, über das vermutlich das Kennenlernen lief, auch nicht) singt mit „What Do You Want“ zunächst klassischen melodischen Hardrock. Der andere Doppler folgt auf dem Fuße: Stratovarius-Stimme Timo Kotipelto hat das sechsminütige „Who Are We“ vor sich, das als Pianoballade beginnt, sich in bombastischen Melodic Metal weiterentwickelt und mit einer längeren sehnsuchtsvollen Leadgitarrenlinie ausklingt. Im Pianoteil denkt man zwar mal ganz kurz an Pink Floyds „High Hopes“, aber im Ganzen würde die Nummer problemlos auch auf eins der jüngeren Stratovarius-Alben passen.
Mit Pekka Heino tritt wieder ein Unbekannter ans Mikrofon. Die finnische Antwort auf Heinz Georg Kramm ist er offenbar nicht, aber er könnte sich sonst im Popbereich aufhalten, lautet die Theorie, denn „Side By Side“ mutet wie ein mit einigen Extragitarren aufgepeppter flotter Popsong an, in dem allerdings Janne Huttunens Saxophonsolo in ein sphärisches Break eingebettet ist. Stimmlich erinnert der Mann ein wenig an Ray Wilson, aber auch noch an jemand anders, der dem Rezensenten noch nicht eingefallen ist. Im Finale geht es dann lautmalerisch zu, mit Sprachpassagen, Gelächter und anderen Zutaten. Die Recherche ergibt, dass der Vokalist bei Brother Firetribe singt und lange Zeit auch bei Leverage aktiv war – zwei Bands, die zwar theoretisch ins Beuteschema des Rezensenten passen, aber ihm musikpraktisch noch nicht begegnet sind. Und ja, mit der „Verrockung“ original nichtrockigen Materials hat er auch Erfahrung, und zwar u.a. bei einem Weihnachtsprojekt.
Danach folgt der zweite Block der Doppler. Renan Zonta eröffnet wieder, und zwar mit „The Music Box“, das naturgemäß mit einer entsprechenden Geräuschkulisse anhebt und tatsächlich auch ein paar entfernte Genesis-Parallelen mit sich herumträgt, allerdings gerade nicht zu den alten der Gabriel-Ära, wie man anhand des Titels mutmaßen könnte, sondern kurioserweise zu Calling All Stations, also der allgemein eher ungeliebten Ray-Wilson-Zeit – und es wäre ein Highlight auf der Platte gewesen. Es entwickelt sich nämlich ein locker swingender Melodic-Rock-Song mit lebendigem Pianospiel, der in der Mitte sogar noch das Tempo verdoppelt und das Tanzbein weit ausschwingen läßt, ehe ein bombastisches Finale mit abermals markantem Piano die Nummer krönt. Kann sich jemand vorstellen, was herauskäme, wenn Genesis, Ten und Threshold zusammen einen Song geschrieben hätten? „The Music Box“ könnte die Antwort sein. Leichter zu klassifizieren ist „Into The Fray“, der zweite Kotipelto-Song, der von bombastischen Keyboardtürmen lebt, in treibendem Midtempo daherkommt (am Schlagwerk sitzt auf der ganzen Platte übrigens Stratovarius-Drummer Rolf Pilve) und einen markant anders harmonisierten Refrain einbaut, an den man sich im gegebenen Kontext erst gewöhnen muß.
Anette Olzon hat eine eigentümliche Nummer bekommen – irgendwo auf halbem Weg vom Folkrock, vielleicht sogar Folkpop zum Melodic Rock, aber auch hier paßt das eingangs zitierte Schema, denn „I Could Stop Now“ hätte einerseits in ihr Soloschaffen gepaßt, andererseits mit geringen Veränderungen auch auf einem ihrer beiden Nightwish-Alben stehen können, wo sich ja bekanntermaßen gaaanz entfernte Verwandte wie „The Islander“ oder „The Owl, The Crow And The Dove“ tummelten. Mit Ausnahme eines größeren Parts im hinteren Teil lebt die Nummer von Akustikgitarren, besitzt aber einen zügigen Grundbeat, ist also keinesfalls als Ballade zu klassifizieren. Die kommt mit „Haunted House“ danach und ist recht düster angehaucht – möglicherweise geht es um das Haus, das auf dem Cover rechts hinten abgebildet ist. Diesen sehr emotionalen Moment der Platte hat sich Liimatainen gesangsseitig selbst zugewiesen, und man hört Zeilen wie dem oft eingesetzten „I’m empty now“ den Mix aus Beklemmung und Befreiung deutlich an. Nach knapp vier Minuten folgt ein härterer Part und macht die Nummer daher zum Archetyp einer angedüsterten Powerballade, wie sie Liimatainen bei jeder seiner Bands im melodischeren Spektrum hätte unterbringen können.
Es verwundert vielleicht trotzdem ein wenig, dass der Finne sich nicht den Titeltrack für seine eigene vokale Darbietung ausgesucht hat. Der entpuppt sich allerdings als elfminütiges Progmetal-Epos und wird von Antti Railio gesungen, dessen Stimme farblich so sehr an die von Tony Kakko erinnert, dass man diesen Song beinahe auch zu Sonata Arctica hinüberschieben könnte – und Railio stand ab dem zweiten Album bei Celesty am Mikro, die schon seit ihrer Frühzeit phasenweise stark nach Sonata Arctica klangen. Aber es gibt durchaus Unterschiede, etwa wenn Railio kurz nach Minute 3 in etwas rauhere, kräftigere Gefilde wechselt, was freilich Episode bleibt, da in der Wiederkehr des enorm langen Refrains wieder der übliche mittelhohe, leicht flächig wirkende Tonfall angeschlagen wird, wie man ihn in ähnlicher Form auch von Kakko kennt. Nach Minute 7 kommt schleppender Bombast um die Ecke, dessen Überwältigungsfaktor noch etwas stärker hätte ausfallen können, der aber andererseits in einen ergreifenden balladesken Part mündet, so dass das vielleicht sogar Absicht war, die Überwältigung noch gar nicht so hoch zu schrauben. Schließlich folgt nach einigen Minuten noch Orchesterbombast, ehe der Song wie das Album mit verloren anmutenden Pianoklängen ausmäandern.
Nach knapp einer Stunde sitzt man jedenfalls staunend da, mit welchem glücklichen Händchen Jani Liimatainen sein Konzept umgesetzt hat – statt eines wüsten Sammelsuriums ist ein homogenes und doch vielfältiges Werk entstanden, das man praktisch allen Anhängern der Bands der beteiligten Sänger ans Herz legen kann und das zumindest unter demjenigen Teil des kompositorischen Schaffens des Finnen, der dem Rezensenten bekannt ist, klar die Spitzenposition einnimmt. (Die beiden Sonata-Arctica-Erstlinge bleiben, was die reine spielerische Beteiligung Liimatainens betrifft, allerdings unerreicht.)



Roland Ludwig



Trackliste
1Breathing Divinity5:03
2All Dreams Are Born To Die4:51
3What Do You Want4:55
4Who Are We6:08
5Side By Side5:16
6The Music Box5:50
7Into The Fray5:33
8I Could Stop Now3:56
9Haunted House5:17
10My Father’s Son11:32
Besetzung

Björn “Speed” Strid (Voc)
Tony Kakko (Voc)
Renan Zonta (Voc)
Timo Kotipelto (Voc)
Pekka Heino (Voc)
Anette Olzon (Voc)
Antti Railio (Voc)
Jani Liimatainen (Voc, Git, Keys)
Jarkko Lahri (Piano)
Johan Kuhlberg (B)
Rolf Pilve (Dr)


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