Ives, Ch. (Berman, D.)

Klaviersonate Nr. 2 („Concord Mass., 1840–60“) u. a.


Info
Musikrichtung: Moderne / Klavier

VÖ: 14.06.2024

(AVIE / Harmonia Mundi / CD / DDD / 2023 / AV2678)

Gesamtspielzeit: 52:26



AMERICAN IMPRESSIONISM?

Charles Ives monumentale 2. Klaviersonate „Concord. Mass., 1840–60“ schlägt in der amerikanischen Musik eine Brücke zwischen der mehr romantisch bzw. europäisch geprägten Tonsprache der Vergangenheit und der Vielstimmigkeit der amerikanischen Gegenwart zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die Musik bringt disparates Material und unterschiedliche Stile zusammen: Wohlklang und Lyrismus verbinden sich mit geballten Dissonanzen, Beethoven meets Chopin und Kirchenchoral, Tschaikowsky trifft auf Wagner, Ragtime und Cluster. Die vier Sätze sind prägenden Persönlichkeiten des amerikanischen Transzendentalismus gewidmet, die hier porträtiert werden: W. A. Emerson, N. Hawthorne, Bronson und Louisa May Alcott sowie H. D. Thoreau. Das Ausdrucksspektrum umfasst zarte Empfindung und Pathos ebenso wie einen grimmigen Humor, romantische Stimmungsmalerei sowie eine gewisse Phantastik.

Reichlich verzwickt ist dabei die Quellenlage: Die vier Sätze beruhen auf verschiedenen (Orchester)Werken des Komponisten, die zwischen 1904 bis 1915 entstanden und heute größtenteils verloren sind. Die 1920 erschiene Erstfassung der Sonate hat Ives Ende der 1940er Jahre ein weiteres Mal überarbeitet. Was mit seiner kühnen Montagetechnik in den 1920er Jahren noch ein Vorläufer der Avantgarde gewesen war, klang 1947 fast schon wieder konventionell. Also schärfte Ives die Harmonik dissonant aus und nahm weitere Änderungen vor. Doch das Werk entsprach damit immer noch nicht seinen endgültigen Vorstellungen, es blieb ein Lebensprojekt. Umfassendere Überarbeitungen für den Druck waren allerdings nicht mehr möglich, weil die durch viele Korrekturen beanspruchten Platten dies nicht verkraftet hätten.

Ives fortgesetzte Skizzen und Korrekturen sprechen also eine andere Sprache als die publizierten Fassungen. Der Ives-Experte und Pianist Donald Berman hat sich daran gemacht, eine neue quellenkritische Version zu erstellen, die sich Ives finalen Vorstellungen annähert.
Bei Berman bekommen wir denn auch wirklich einen etwas anderen Ives zu hören. Trotz der vielen neuen Noten bleibt die Sonate an sich aber ohne weiteres erkennbar. Der neue Eindruck stellt sich mehr wegen des interpretatorischen Angangs ein: Berman lässt uns Ives Sonate als Vertreter eines musikalischen „American Impressionism“ erleben. Das Harsche, Wilde und Disruptive sowie die collagenhaften Schichtungen treten hinter den mehr harmonisch-atmosphärischen Gesamteindruck zurück. Noch das markante Eröffnungsmotiv aus Beethovens 5., das Ives mit einer gewissen Chuzpe als Leitmotiv verwendet, verschwindet weigehend im Dickicht der übrigen Stimmen. Auch Restbestände der ursprünglichen Stücke werden konsequent nicht berücksichtigt: Eine Handvoll Takte für Bratsche am Ende des 1. Satzes entfallen ebenso wie die optional hinzutretende Flöte im 4. Satzes.
Dynamik und Artikulation gestaltet Berman im Ganzen vergleichsweise „soft edge“. Wichtiger als markige Gesten und Zäsuren ist Berman das ständig sich wandelnde Spiel aus harmonischen Schattierungen, die sich, unterstützt durch einen differenzierten Pedalseinsatz, vor allem in immer neuen Grauschattierungen entfalten.
Der Ton ist insgesamt erdig und opak. Ives weitgehender Verzicht auf Taktstriche wird von Berman als permanenter Fluss interpretiert. Es dominiert eine nervös-vergrübelte, ja pessmimistische Grundstimmung.

Dies ist eine Interpretation, die sich von der Mehrzahl der Einspielungen noch einmal deutlich unterscheidet und sicherlich für Diskussionen sorgen dürfte.

Als Zugabe gibt es "The St. Gaudens", ein weiteres Klavierstück, das später in den 1. Satz des Orchesterset Nr. 1 "Three Places in New England" umgearbeitet wurde.



Georg Henkel



Trackliste
The St. Gaudens („Black March“)
Klaviersonate Nr. 2 („Concord Mass., 1840–60“)
Besetzung

Donald Berman, Klavier


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>