Timo Rautiainen & Trio Niskalaukaus
In frostigen Tälern
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Der Sänger und Gitarrist Timo Rautiainen hatte in seiner finnischen Heimat schon mit der Doomband Lyijykomppania szeneinterne Bekanntheit erlangt, mit der er bereits in den Frühachtzigern aktiv war, aber erst nach einer zwischenzeitlichen Bandauflösung Tonkonserven einspielte, wobei zu den Mitgliedern dieser Combo mit dem Bassisten und Sänger Tapio Wilska noch ein weiterer später recht populär gewordener Musiker zählte. 1996 verließ Rautiainen die Band und stellte ein Soloprojekt unter der Bezeichnung Timo Rautiainen & Trio Niskalaukaus zusammen, wobei dieses im Gegensatz zu den zeitweise tatsächlich in Triobesetzung aktiven Lyijykomppania nicht selten mehr als drei Musiker versammelte, auf dem 1999er Debütalbum Lopunajan Merkit beispielsweise gleich fünf (den „Chef“ noch gar nicht mitgezählt) und auf dem 2000er Folgewerk Itku Pitkästä Ilosta immer noch vier. Letzteres Werk schaffte den Sprung in die finnischen Charts und etablierte nicht nur die neue Band endgültig, sondern sorgte auch für eine breite Resonanz in der finnischen Musikwelt generell, was nicht wenig überrascht, da die Formation für nichtmetallische Hörgewohnheiten durchaus gewöhnungsbedürftig musiziert.
Rautiainen war der Erfolg in seiner Heimat allerdings nicht genug, aber die internationale Vermarktung gestaltete sich ob der finnischen Texte nicht ganz einfach – Finnisch gehört bekanntermaßen zur finno-ugrischen Sprachgruppe und besitzt in Europa außer dem Ungarischen keine weiteren verwandten Sprachen, was die Erschließung etwa für Sprecher romanischer oder slawischer Sprachen eher kompliziert macht. Allerdings wollte der Bandkopf auch nicht einfach wie alle anderen in Englisch singen, also entschied er sich für Deutsch. Das Ergebnis war das im April 2001 in Deutschland und im Mai 2001 auch in Finnland, also vom Rezensionszeitpunkt aus gesehen vor 20 Jahren, herausgekommene Album In frostigen Tälern, welches mit dem gleichen Coverartwork wie Itku Pitkästä Ilosta ausgestattet wurde, obwohl nur vier von dessen Songs übernommen wurden und die anderen vier, darunter der deutsche Titeltrack, von Lopunajan Merkit. Letztere, da original noch in anderer Besetzung (u.a. mit einem festen Keyboarder) entstanden, wurden nochmal komplett neu eingespielt, bei ersteren begnügte man sich damit, die Gesangsspuren auszutauschen, wobei in der Gesamtbetrachtung der nur knapp 35 Minuten ein durchaus homogen wirkendes Werk entstanden ist.
Rein musikalisch stellt das Genickschuß-Trio (so die Übersetzung) die konsequente Weiterentwicklung des Sounds von Lyijykomppania (das wiederum heißt passenderweise Bleikompanie) dar: Rautiainen bleibt auch mit seiner neuen Formation im Doom, besetzt die Gitarrenfraktion aber in multipler Form, was im hier vorliegenden Fall gleich zu drei Gitarristen führt, da er selbst dieses Instrument nebenbei auch noch spielt. Und so entstehen einerseits mächtige Riffwände und andererseits Optionen für mehrere Harmonieschichten, wie sie beispielsweise in „Alles hat seine Zeit“ wirkungsvoll mit dem trockenen Riffing kontrastieren. Ein ganz leichter Blueseinfluß ist bereits im Opener „Fernfahrer“, aber beispielsweise auch im Intro von „Liebe ohne Grenzen“ durchhörbar, und dazu kommen diese irgendwie finnlandtypischen großen Melodiebögen mit mehr oder weniger latentem Melancholietransport, wofür ebenfalls „Liebe ohne Grenzen“ oder auch der abschließende Titeltrack schon in ihren Intros prächtige Beispiele liefern. Die auf dem Debütalbum noch besetzte Planstelle eines Keyboarders wurde auf dem Folgewerk wie erwähnt wegrationalisiert und auch für die Neueinspielungen nicht wieder regulär geschaffen – einige wenige atmosphärische Untermalungen wie etwa in „Stille“ mit seiner hintergründigen Hammondorgel besorgt Bassist Nils Ursin als Nebenjob-Tastenmann, und durch die gewählte Formulierung ist hier zugleich klar, dass es sich nicht um eine Coverversion von John Cages „4‘33“ handelt, obwohl das Niskalaukaus-Lied nur vier Sekunden länger dauert. Drummer Seppo Pohjolainen hebt die Schlagzahl in „Russlands Waisen“ in ein treibendes Midtempo, und auch der eröffnende „Fernfahrer“ ist durchaus nicht im ersten oder zweiten Gang unterwegs, sondern durchaus mit einem zügig über die Straßen rollenden Vierzigtonner vergleichbar, aber das Gros der Songs bewegt sich in verschiedenen Schattierungen eher schleppenden Midtempos, für Doom allerdings immer noch relativ schnell, vom abschließenden Titeltrack mal abgesehen, der zu einer feierlichen großen Doomhymne geworden ist. Dazu kommt Rautiainens in der Färbung bisweilen leicht an Ozzy erinnernde klare Stimme, wobei in der instrumentalen Komponente allerdings deutlich weniger klassischer Hardrock steckt als im Ur-Doom Black Sabbaths, wenngleich Tony Iommi das eine oder andere Riff vermutlich auch mit Kußhand in sein eigenes Schaffen übernommen hätte. Aber durch die große Zahl der Gitarristen plus die gelegentlichen Keyboards entsteht ein recht dichtes Klangbild, das freilich immer noch ausreichend Platz für Details läßt – man achte im Titeltrack mal auf die Halleffekte in den letzten Textzeilen! Zudem überzeugt das Songwriting von Rautiainen ohne Wenn und Aber – schon die bei exakt 2‘00 plazierte Bridge in „Fernfahrer“ (Pünktlichkeit gehört also offenbar auch in Finnland zu den geschätzten Tugenden) geht als erster von zahlreichen Geniestreichen durch, und acht Treffer unter acht Songs sind eine praktisch nicht mehr überbietbare Quote – der Rezensent besitzt die originalen finnischen Alben nicht und kann daher nicht sagen, ob der Chef gezielt die Perlen herausgepickt hat und der Rest des Materials eher abfällt, aber das kann demjenigen, der ausschließlich In frostigen Tälern erwirbt, praktisch ja auch egal sein. Passagenwiederholungen in Vielfachen von 2 oder 4 sollte man allerdings schon mögen, um mit dem Material warmwerden zu können – in dieser Komponente gehört Rautiainen songwriterisch ganz klar zur alten Schule, und er weiß aber auch, wann es eines Wechsels bedarf, um die Aufmerksamkeit des Hörers bei der Stange zu halten.
Bleibt ein wichtiger Aspekt zu analysieren: die Texte. Wie eingangs bereits bemerkt sind die Originale in Finnisch gehalten, gedichtet überwiegend von einem Bandexternen namens Tomi Tuomaala; lediglich „Russlands Waisen“ stammt aus der Feder Rautiainens, und „Alles hat seine Zeit“ ist als Gemeinschaftsarbeit von ihm und Tuomaala ausgewiesen. Für die Übersetzungen ins Deutsche zeichnete Teemu Kautonen – Finnland-Szene-Kennern von Wizzard ein Begriff – verantwortlich, also kein deutscher Muttersprachler. Und das bemerkt man dann auch. Selbst wenn er mit Maija Kinnunen und Jens Horstmann noch zwei Helfer hatte, bei denen zumindest von letzterem anhand des Namens zu vermuten ist, dass es sich um einen deutschen Muttersprachler handelt, hat der offensichtliche Versuch, die Originale mehr oder weniger 1:1 zu übertragen, zu teilweise skurrilen Ergebnissen geführt. Kostprobe gleich aus „Fernfahrer“:
„die waren im anhänger
man weiß nicht was die sind
die männer mit den messern
die ziehen sich masken an“
Oder im Titeltrack Zeilen wie:
„man kann nicht weggehen
anderswo führt kein weg hin“
Da fühlt man sich bisweilen an die legendären Fehlschläge von Friederike Kempner erinnert. An anderen Stellen wiederum entstehen originelle und hochkarätige sprachliche Bilder, auf die kein deutscher Dichter kommen würde, etwa im Finale von „Russlands Waisen“:
„kommt der große morgen
fest des hellen lichtes
das präludium
des tausendjährigen winters“
Der Text dreht sich um das Personal eines russischen Atom-U-Boot-Hafens samt Atomwaffeneinsatz, und auch in anderen Songs greifen Rautiainen und Tuomaala durchaus ernste Themen auf. Der „Fernfahrer“ etwa wird seit 13 Jahren von seinen Arbeitgebern hingehalten, einen Arbeitsvertrag zu bekommen, und bis dahin mit gefährlichen, vermutlich illegalen Frachten auf Trab gehalten. „An der Grenze“ und „Alles hat seine Zeit“ thematisieren Umweltprobleme, und „Liebe ohne Grenzen“ beschäftigt sich mit dem außerhalb Finnlands wenig präsenten Thema, dass sich die Nordfinnen von den Bewohnern im Süden permanent übervorteilt, untergebuttert und als Hinterwäldler behandelt fühlen. „Ein guter Tag“ beinhaltet typischen schwarzen Humor, denn der besungene Tag ist der letzte vor dem Untergang, und „Stille“ gibt verwirrenden Situationen eine Stimme:
„in der dreizehnten etage
sitze ich und halte deine hand
häßliche, dunkle wolken liegen da unten
und die ganze welt hängt an dünnen fäden“
Meisterstück der abstrus-genialen Poesie ist trotz eines Kempnerschen Fehlschlags wie dem oben zitierten der Titeltrack, der menschliche Verfehlungen in Landschaftsbilder übersetzt und damit wahlweise im- oder expressionistische Dichtung par excellance bietet. Dass die Texte im Booklet jeweils mit einem Schwarz-Weiß-Foto unterlegt sind, verstärkt die eigentümliche Stimmung in etlichen Fällen gekonnt, etwa wenn der Bewohner Lapplands, der in „Liebe ohne Grenzen“ besungen wird, mit der Spitzhacke in der Hand einsam durch den Schnee stapft. Das Cover von In frostigen Tälern zeigt interessanterweise nicht das Hintergrundbild des Titeltracks, sondern das von „Ein guter Tag“, dessen finnisches Pendant wie auch der Titeltrack vom Lopunajan Merkit-Album stammt – das Bild stellt aber bekanntermaßen das Cover des anderen Quell-Albums, also von Itku Pitkästä Ilosta, dar. Da scheint die Zuordnung im Booklet also nicht deckungsgleich übernommen worden zu sein, wobei nur der Besitzer der finnischen Originale die genaue Gestaltungskombination analysieren kann. Kuriosum am Rande: Die Formation hielt es nicht mal für nötig, Bandname und Albumtitel auf dem Cover zu verewigen – letzterer schaut zumindest an der linken Seite des Cleartrays neben dem Cover durch, ersterer aber findet sich auch nicht mal auf dem Backcover, sondern nur an den Seiten des Trays ...
So stellt sich In frostigen Tälern als ein musikalisch hochgradig ernstzunehmendes und zugleich hochgradig kultiges Album dar, das in seiner Konsequenz praktisch nicht mehr überbietbar ist und daher mit der Höchstnote bewertet werden muß. Die Nicht-Überbietbarkeit wurde drei Jahre später mit dem zweiten deutschen Album-Versuch Hartes Land dem Hörer dann auch plastisch vor Augen geführt – ein gutklassiges, jedoch nicht an In frostigen Tälern heranreichendes Werk, das freilich auch immer noch erwerbenswert war (auf www.crossover-netzwerk.de findet der Interessent ein ausführliches Review). Kurze Zeit später löste sich die Formation auf und fand erst ein Jahrzehnt später wieder zusammen, auch wieder neues Material veröffentlichend, abermals in Finnisch betextet. Zwei finnische Alben sind seit der Reunion erschienen, und wer den Rhythmus der alten Alben verfolgt hat, der weiß, dass immer nach zwei finnischen Alben ein deutsches folgte. Ergo wäre es jetzt theoretisch an der Zeit für ein drittes deutsches Album ... Ob es Pläne dafür gibt, ist zumindest dem Rezensenten momentan nicht bekannt, und die Plattenfirma Spinefarm weiß auch von nichts (es gibt auch keine Sondereditionen o.ä. zum 20jährigen Releasejubiläum von In frostigen Tälern), aber das Augenoffenhalten lohnt sich allemal, und vielleicht streckt der eine oder andere Leser ja auch seine Fühler nach den finnischsprachigen Werken oder gar den Uraltscheiben von Lyijykomppania aus, die es in der heutigen globalisierten Metalwelt ja einfacher zu beschaffen geben dürfte als noch vor einigen Jahrzehnten.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Fernfahrer | 3:38 |
2 | Ein guter Tag | 3:42 |
3 | Russlands Waisen | 4:26 |
4 | An der Grenze | 4:21 |
5 | Alles hat seine Zeit | 5:08 |
6 | Liebe ohne Grenzen | 3:43 |
7 | Stille | 4:37 |
8 | In frostigen Tälern | 4:55 |
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Besetzung |
Timo Rautiainen (Voc, Git)
Jarkko Petosalmi (Git)
Karri Rämö (Git)
Nils Ursin (B, Key)
Seppo Pohjolainen (Dr)
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