Die Corona-Stille ist vorbei. Nachdem im März und April selbst das Rauschen der nahen Autobahn zeitweise zu einem leisen Säuseln geworden war, brummt der Verkehr jetzt fast wieder wie früher. Die sogenannte Normalität ist laut. Aber noch schweigen die allermeisten Konzerthäuser und Opern, die Musikhallen und Freilichtbühnen. Da ist man vom Normalbetrieb immer noch weit entfernt, trotz der zunehmenden Lockerungen. Öffentlich vor Publikum treten nur die Vögel auf, die sich von der ganzen Krise unbeeindruckt zeigen und allmorgendlich und -abendlich ihren großen Gesang anstimmen. Auch davon hat man in den ruhigen Zeiten mehr als sonst mitbekommen können. Die Vögel demonstrieren ständig, dass es ein uncoronafiziertes Leben gibt.

Was die Musikbranche angeht, merkt man noch nicht, dass aktuell fast nichts produziert wird. Erst im kommenden Jahr wird man sehen, was alles nicht stattgefunden hat, was alles abgesagt und stillgelegt wurde, welche Künstler es nicht geschafft haben. Die Klassikbranche beispielsweise ist so international, dass es praktisch kaum möglich ist, vor dem Hintergrund von Reisebeschränkungen und Abstandregeln geplante Großproduktionen zu realisieren. Und auch bei Kammermusikproduktionen wird es schwierig, wenn die Interpreten aus verschiedenen Ländern kommen und nicht Reisen können. Und dann gilt ja noch: Alles was mit dem Atem zu tun hat, ist besonders riskant. Gemeinsam Singen und Instrumente spielen – bitte nur mit großer Distanz. Musik in Zeiten von Corona verbindet nicht, sie trennt. Eine kleine Heerschar von Bluesmusikern hat sich davon nicht abhalten lassen ihre Lockdown Sessions einzuspielen.

Von den Klassiklabeln kommen im Augenblick bevorzugt digitale Muster, Dateien zum Download. Um die Paketflut zu vermindern, heißt es. Ob daraus eine Dauerlösung wird? Immerhin bietet es sich angesichts der geringen Anzahl von analogen Neuzugängen an, das heimische Archiv zu durchstöbern und alte und gar nicht so alte Schätzchen mal wieder zu hören. Gerade auf dem Höhepunkt des Lockdowns und zur Vorbeugung gegen die vernehmlichen psychologischen Autoimmunreaktionen (Stichwort „Verschwörungstheorien“) kann die Musik, die klassische zumal, heilsam wirken.

Das Beethoven-Jahr, das im Live-Bereich ja unfreiwillig ein ziemlich stilles geworden ist, bietet die Chance, Beethoven in den eigenen vier Wänden zu entdecken. Bei Beethoven gilt ja, „je tauber desto radikaler“. In die Mitte seines Lebens, ins Zentrum seiner musikalischen Existenz getroffen, hat Beethoven in der unfreiwilligen Quarantäne des Gehörverlusts sich gegen den drohenden Untergang und die geistige Verwirrung zu immer größerer Kunst durchgekämpft.

Lauscht man zum Beispiel seinen späten Quartetten, in denen er die bis dahin vertrauten musikalischen Räume ins Unerhörte erweitert hat, kann man praktisch alle Geistes- und Gemütsverfassungen durchleben, die uns heute so umtreiben. Beethovens Klangwelten sind ebenso fließend, rätselhaft und grenzüberschreitend wie das Leben. So anfechtend und tröstlich, so zugeneigt und schroff, so allumfassend und unkalkulierbar, so humorvoll und existenziell zugspitzt. Da kommt man mal wieder in Resonanz mit sich selbst. Bei aller Fasslichkeit ist diese Musik zugleich unerklärlich, außerhalb des Referenzrahmens, immer noch, immer wieder. Ein gutes Mittel gegen den Mentallärm und das Bescheid-Wissen-Getöse im Kopf.

Darüber hinaus sind auch die Beiträge in dieser frühsommerlichen Ausgabe von Musikansich wieder ein Angebot, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden und den guten Sounds in allen Genres auf der Spur zu bleiben. Zu den reichlichen Rezensionen kommen wieder einige Artikel und Interviews. Norbert von Fransecky lebt mit der CD inzwischen in der 111. Folge seiner Kolumne, die sich um Abbas Album Waterloo dreht.

In seinem Artikel zu John Brown geht er dem Ursprung eines bekannten Marschliedes und Ohrwurms nach.

Ein Höhepunkt dieser Ausgabe sind die englischen und deutschen Fassungen von Interviews mit den Uriah Heep-Gründungsmitgliedern Mick Box und Ken Hensley. Die beiden Gespräche gehen im 50. Geburtsjahr der Band zurück zu den Gründungsjahren dieser Hard-Rock-Legende und klären über manche Legende aus dieser Zeit auf. Die Interviews sind gleichzeitig Auftakt einer 12-monatigen Review-Serie zu den Uriah Heep-Alben, die bei uns in unserer fast 20-jährigen Geschichte noch nicht besprochen wurden.

Viel Spaß beim Lesen & Hören wünscht

Georg Henkel