Von der Nordsee über Irland und russische Birkenwälder in die Wüste: Das Leipziger Universitätsorchester spielt sein Wintersemesterkonzert
Muß das Leipziger Universitätsorchester sich bei seinem Konzert am Ende des Sommersemesters meist mit einem nur zur Hälfte gefüllten Gewandhaus begnügen, so bleibt beim Konzert am Ende des Wintersemesters nur selten ein Platz frei. Okay, Ende Januar ist weder Bade- noch Grillwetter und die Zahl der möglichen Alternativaktivitäten einen Deut begrenzter – doch ein angenehm klimatisierter Gewandhaussaal hat auch im Sommer nicht selten so seine Vorteile ... Aber jetzt ist Winter, der Saal ist voll (und natürlich auch angenehm klimatisiert), und das aus Leipziger Studenten, die nichtmusikalische Studiengänge belegen, bestehende Orchester hat als erstes Werk Richard Wagners Ouvertüre zu Der fliegende Holländer auf den Pulten liegen. Der schweizerische Dirigent Frédéric Tschumi legt schon in die Einleitung etliches an Druck, und die Hörner sind dort noch guter Dinge, gehen im weiteren Verlauf des Stückes wie des Konzertes aber leider etwas oft baden. Die holzbläserdominierte Kammermusik wackelt auch etwas, erzeugt aber richtig schöne Klangwirkungen, die Wellenbewegungen zaubert Tschumi auch als Bewohner eines Binnenstaates sehr gekonnt aus dem Orchester hervor, und wenn der Kahn doch mal unterzugehen droht, schaffen die griffigen Tutti problemlos Abhilfe. Die Tempogrenzen legt der Dirigent schon recht weit außen fest, und in puncto Gestaltungskraft gibt es bis zum Ende dieser Ouvertüre keine Beanstandungen. Max Bruchs Werke erfreuten sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit, heutzutage hingegen findet man in den Orchesterspielplänen neben dem bei Solocellisten beliebten Kol Nidrei fast nur noch das 1. Violinkonzert. Das Konzert für Viola, Klarinette und Orchester hingegen fristet trotz der Tatsache, dass es zwei Soloinstrumente bedenkt, die sonst kaum im Fokus der Komponisten stehen und demzufolge akuten Mangel an entsprechender Literatur leiden, ein akutes Schattendasein. Daran dürfte sich freilich auch so bald nichts ändern, entspricht das Werk in seiner Harmlosigkeit doch nicht so richtig dem Beuteschema heutiger Orchesterdramaturgen – und ist schon das genannte Violinkonzert ein fluffiges, aber eben auch der Hand entflutschendes Werk, so potenziert das Doppelkonzert diese Eigenschaften sogar noch. Konfliktaustragung findet praktisch nicht statt, alle drei Sätze bestehen im Prinzip aus freundlichem Geplauder der beiden Solisten, hinter dem ein Orchesterteppich ausgerollt wird. Dieses Grundmodell wird schon zu Beginn des ersten Satzes entwickelt, als zunächst Bratscherin Anna-Lena Zenner zu einigen Orchestertupfern zu spielen beginnt, Klarinettistin Eva Kroll dann in gleicher Weise antwortet und sich alsbald das erwähnte Geplauder entwickelt, das sich ohne nennenswerte Dynamik bis zum Ende des ersten Satzes hinzieht und wo auch die Tutti-Berge liebliche Hügel bleiben. Das unprätentiöse Geplauder setzt sich im zweiten Satz fort, jetzt auf leicht schwingenderer Basis und mit einigem Witz in den ausgedehnten Zupfparts. Als im dritten Satz die Trompeten zur Attacke blasen, hegt der Hörer Hoffnung, hier würde jetzt wirklich mal etwas passieren – aber Fehlanzeige: Das Tempo geht leicht nach oben, die Solistendialoge hört man jetzt nur noch zur Hälfte, weil das etwas lauter gewordene Orchester die andere Hälfte überdeckt, die puren Orchesterparts erzeugen geringfügig größere Tutti-Hügel mit leichten Anflügen von Dramatik, und irgendwann ist das Stück, das etwas an das alte Scherzbild von einer Wanderung über die grünen Hügel Irlands erinnert (sobald man einen derselben erstiegen hat, sieht man noch 100 gleichartige vor sich liegen, wobei im vorliegenden Fall die Höhe der Hügel wie beschrieben sehr mäßig bleibt), dann einfach zu Ende. Intensiver Applaus belohnt die Beteiligten, aber er bricht auch schlagartig nach dem ersten Vorhang wieder ab, und so bleibt die Frage, ob es noch eine Solistenzugabe gegeben hätte, unbeantwortet. An Dynamik und Dramatik mangelt es der nach der Pause auf dem Plan stehenden Sinfonie Nr. 4 f-Moll von Peter Tschaikowski nun nicht – nicht im Grundsatz und auch nicht in der Wiedergabe durch das Orchester an diesem Abend. Tschumi läßt schon im 1. Satz recht imposante Blechblöcke schmieden, aber es dauert trotzdem eine ganze Weile, bevor er eine richtige Linie ins bis dahin eher zerklüftete Geschehen gelegt hat. Dafür erfreut sich der Hörer an der Holzbläserarbeit im zurückgenommenen Teil und deren prächtig gespieltem Nachschwingen über den Kontrabaßzupfern, ebenso an der lupenreinen Folgesteigerung zu einem klug dimensionierten Ausbruch. Der Wildheitsaspekt samt den wütenden Blechbläsern ist wohldosiert – für den Satz ein Höhepunkt, in der Gesamtbetrachtung noch Steigerungsmöglichkeiten offenlassend, und da auch die Kontrastwirkungen stimmen und sich die Hörner nach anfänglichen argen Problemen auch steigern, gelingt summiert eine gute Leistung. Im zweiten Satz macht dann der kammermusikalische Aspekt am meisten Freude, und es tritt ein Paradoxon auf: Rein spieltechnisch klappt in den Holzbläsern längst nicht alles – aber die Gesamtwirkung in den durch diese Instrumentengruppe dominierten Passagen ist klasse, wozu freilich auch die eine oder andere exzellente Einzelleistung hinzutritt. Den Dynamikgipfel setzt Tschumi hier viel weiter unten an als im ersten Satz und fährt damit gut, die Steigerungen hin zu ebenjenem gelingen ausgewogen, und da der Dirigent es auch schafft, trotz der vielen Mäander nicht ins Schleppen zu geraten, überzeugt das Gesamtbild auch diesmal. Hatte man schon zuvor am regelmäßigen Applaus zwischen den Sätzen bemerkt, dass ein Gutteil konzertunerfahrenes Publikum anwesend ist, so findet dieser Aspekt eine weitere Unterstreichung in der Heiterkeit, die der dritte Satz auslöst, als die Nichtkenner des Werkes bemerken, dass dieser im Prinzip grundlegend aus gezupften Streichern besteht. Die stehen freilich wie eine Eins, obwohl Tschumi durchaus ein flottes und für ein Laienorchester damit gefährliches Tempo anschlägt, und die abermals schönen Holzsoli überzeugen abermals. Den vierten Satz hängt Tschumi trotz des abermals aufbrandenden Applauses nahezu attacca an, der gekonnt gespielte und großdimensionierte Ausbruch läßt schnell erkennen, wer hier lauter ist, und Dirigent und Orchester schaffen in der Folge einen sehr geschickten Wechsel zwischen Spannungsaufbau und -entladung. Ins eingeflochtene Birkenbaum-Thema legt das Holz einiges an Schwermut, aber die Posaunen holzen den Baum dann schnell und kompetent ab. Tschumi entfaltet schon recht früh im Satz viel Energie und bekommt lehrbuchreife Dynamikentwicklungen hin zur Wiederkehr des Blechthemas aus Satz 1 gebacken. Die Hörner wackeln zwar wieder einmal, wetzen diese Scharte aber auch wieder aus, die Schlußsteigerung beginnt weit unten und läßt dadurch nach oben ausreichend Entfaltungsraum (auch wenn man das Gefühl hat, das Maximum sei nicht ausgereizt worden), und die Blockbildung der Einleitung des ersten Satzes findet jetzt ihr Gegenstück im ein großes Ganzes bildenden Finale. Mit etlichen Bravi durchsetzter Jubel belohnt das Orchester, und die Holzbläser bekommen verdientermaßen den lautesten Einzelapplaus. Von der Tradition einer mit absonderlichen schauspielerischen Elementen angereicherten Zugabe ist das Orchester nicht abgewichen, stellt man anschließend befriedigt fest. Diesmal gibt es den Ägyptischen Marsch von Johann Strauß Sohn, sicherlich nicht zuletzt als Stichelei gegen die um sich greifende Islamophobie gedacht – aber dass die Wahl aufgrund des am Vorabend ergangenen Führerbefehls, äh, Präsidentenerlasses von Donald Trump, der Bürgern aus sieben mehrheitlich islamisch geprägten Staaten auch dann die Einreise in die USA verwehrt, wenn sie über gültige Einreisedokumente verfügen, derartige Aktualität gewinnen würde, hätten sich die Studenten wohl auch nicht träumen lassen. Diesmal werden die Traversen mit Hieroglyphenabbildungen geschmückt, die Hornisten tragen arabische Tracht, der Dirigent treibt ein von zwei kleinen Violinistinnen verkörpertes Trampeltier in den Saal, Kleopatra streitet sich mit ihren Gespielinnen herum, der Bau einer Pyramide beginnt, und als Höhepunkt wird eine Kontrabaßhülle hereingetragen, der ein mit Tut-Ench-Amun-Maske ausgestattetes Wesen entsteigt, welchselbiges dann auf der Bühne hin und her marschiert, aber offenbar keinen Gefallen an der Gegenwart findet, weshalb es sich wieder in seine Ruhestätte zurückzieht. Der Unterhaltungswert des Stückes ist auch rein musikalisch betrachtet ziemlich hoch (Zweifler hören und sehen im Youtube-Kanal des Orchesters nach), und so zieht das Publikum guter Dinge von dannen. Roland Ludwig |
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