Retrospective
Stolen Thoughts
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Stolen Thoughts war nach der EP Spectrum Of The Green Morning der erste vollständige Longplayer von Retrospective, und während die EP 2007 noch in selbstgebrannter Kleinauflage unters Volk gebracht wurde, erschien Stolen Thoughts 2008 bei den polnischen Landsleuten von Lynx Records und wird nun wie die EP (siehe Review auf diesen Seiten) von Progressive Promotion Records, bei denen ab 2012 dann alle weiteren Scheiben der Band im internationalen Maßstab herauskamen, als Re-Release veröffentlicht – allerdings nicht ganz in der Form von 2008. Das betrifft einerseits das Äußere: Das Original erschien im Jewelcase, der Re-Release kommt im sechsseitigen Digipack. Bedeutsamer allerdings ist die musikalische Änderung: Jakub Roszak hat nämlich seinen Gesang komplett neu aufgenommen, und auch Mix und Mastering sind daraus folgend neu angefertigt worden. Wer die Originalfassung besitzt, kann ergründen, welche Unterschiede es gibt – der Rezensent kann es nicht, aber auch ihm fallen zwei Dinge auf. Zum einen setzte Roszak auf der Debüt-EP hier und da eine Stimmfarbe ein, die der von Riverside-Sänger Mariusz Duda ähnelte – das tut er zumindest in der Neufassung von Stolen Thoughts so gut wie gar nicht mehr. Zum anderen singt außer Roszak auch Keyboarderin Beata Lagoda, und offensichtlich wurden auch deren Passagen neu aufgenommen – anders sind die perfekt aufeinander abgestimmten Duettklänge in „Stupid Joke“ kaum zu erklären. Die theatralische Vielfalt der männlichen Leadstimme kennt man allerdings schon von „Pink Elephant Missed“ aus der Debüt-EP, und die gibt es auf Stolen Thoughts trotz oder gerade wegen des Status als Konzeptalbum über das Heranwachsen samt dem Verlust der Naivität auch, sogar gleich im Opener „Defend Your Identity“. Der gönnt sich freilich wieder eine gewisse Entwicklungszeit, hebt mit Plattenknistern an (ebensolches ertönt auch als Outro des letzten Songs „Asleep“, also als Rahmen um das Werk) und läßt ab Minute 1 einen der beiden Gitarristen eine derartig gilmour-verdächtige Melodielinie spielen, dass man, zumal auch der Rest der Instrumentierung paßt, ungläubig dasitzt und sich nicht dagegen wehren kann, dass einem ein gewisser scheinender verrückter Diamant ins Hirn springt, wenngleich die Polen den Floyd-Klassiker natürlich nicht kopieren, sondern lediglich eines seiner Stilmittel aufgreifen und den Song letztlich in eine ganz andere Richtung lenken, nämlich in Grenzbereiche zwischen Progrock und Progmetal mit durchaus markanter Dramatik. Auch in „Sitting In The Red Sun“ fällt eine gewisse Kernigkeit mancher Passagen auf, wobei sich diese überraschenderweise weniger aus den Drums oder den Gitarren speist, sondern Keyboarderin Lagoda hier eine knackige Hammond anwirft. Das angedüstert-balladeske „Yesterday’s Dream“ wiederum gehört zu den Songs, die Riverside auch nicht wesentlich anders gestaltet hätten, und in „Stupid Joke“ fühlt man sich bisweilen an die mittelfrühen Toxic Smile zu Retrotox Forte-Zeiten erinnert, natürlich dort abzüglich der weiblichen Vocals und hier ohne die Verrücktheiten der Combo um Marek Arnold. Aber wenn man genau hinhört, ist das einer der Songs, wo Roszak eine Stimmfärbung einbringt, die der typischen von TS-Fronter Larry B. etwas ähnelt, und in „Yesterday’s Dream“ macht er das gleich nochmal, wenngleich man beide trotzdem noch deutlich voneinander unterscheiden kann. Wer wie erwähnt die Originalfassung besitzt, kann vergleichen, ob das damals auch schon der Fall war.
Damit haben wir von der Songanzahl her die Hälfte der Platte hinter uns und würden auf einer Vinylfassung vielleicht die Seite wechseln müssen – „Yesterday’s Dream“ geht aber nahtlos in „Memories“ über, was dafür spricht, dass das, sollte es wider Erwarten Stolen Thoughts irgendwann auch mal als LP geben, irgendwie anders gelöst werden müßte, um die durchgehende Atmosphäre sicherzustellen, also beispielsweise mit einem Wechsel einen Songübergang später, was dann auch im Hinblick auf eine möglichst wenig unterschiedliche Spieldauer der Seiten A und B die bessere Variante wäre: Die beiden großen Epen der CD lauern erst auf den Positionen 6 und 8. Bei „Memories“ wiederum handelt es sich um ein dreiminütiges Piano-Instrumental vor Gewitterhintergrund, wobei der Regen ein wenig monoton vom Dach fließt. Wer mehr Dramatik haben will, ist aber danach im ersten Epos „It’s Time To Grow Up“ richtig – überraschende, aber nicht unlogische Wendungen, einige komplexere Rhythmen von Drummer Robert Kusik und vielschichtige Gesangsparts, darunter Duette von Roszak und Lagoda, aber auch satzgesangsartige Passagen, sorgen für Anspruch jenseits des auch hier noch im Hintergrund vor sich hin fließenden Wassers, wenngleich Retrospective beweisen, dass sie auch längere Zeit einen simplen Vierviertelbeat durchhalten können, wenn es für die Struktur des Songs von Bedeutung ist. Die Dramatisierung ab Minute 6 resultiert in einem Part, der Tugenden von Riverside und Genesis aufs Beste verknüpft, und dann kommt wieder ein Gitarrensolo zum Zungeschnalzen, diesmal allerdings stilistisch komplett anders gelagert als die Melodie im Opener. Mit reichlich neuneinhalb Minuten ist diese Nummer die längste im bisherigen Schaffenskosmos von Retrospective, die sich ansonsten eher etwas kompakter äußern und den Durchschnitt der Debüt-EP, nämlich knapp sechs Minuten pro Song, auch auf Stolen Thoughts relativ genau treffen. Wenn es darauf ankommt, nehmen sie sich wie erwähnt natürlich trotzdem viel Zeit, auch im spacigen „sNoone“, wo Roszaks Gesang wie in einem ganz weit entfernten Telefonhörer anmutet und ohne den Textabdruck im Booklet praktisch unverständlich wäre. Macht diese Nummer dem Protagonisten noch fünf Minuten lang Hoffnung auf eine goldene Zukunft, so fällt er in „Asleep“, nein, nicht in tiefen Schlummer, sondern aus allen Wolken, dass die Realität des Erwachsenendaseins so ganz anders (und zwar negativ anders) aussieht, so dass sich der Protagonist die Schlaflieder seiner Mutter zurückwünscht, nachdem die Band hier nochmal relativ komplexen Progrock gespielt hat – allerdings keinen synapsenüberfordernden wilden Mathrock, wie es durchaus auch möglich und storydienlich gewesen wäre. Aber das hätte vom generellen Stil des polnischen Sextetts dann doch etwas sehr weit entfernt gelegen und möglicherweise auch so manchen Hörer stärker entnervt als unbedingt nötig. So artikuliert Roszak nochmal theatralisch seine Wünsche und bekommt sie mit der sich wie erwähnt schließenden Geschichte offenbar tatsächlich erfüllt. Wem schon die Debüt-EP gefallen hat, der bekommt mit Stolen Thoughts keinen Grund, Retrospective die Freundschaft zu kündigen, es sei denn, er ist explizit auf „Riverside 2.0“ aus, denn gewisse Parallelen sind zwar immer noch da, aber deutlich unauffälliger geworden, wobei interessanterweise Riverside anno 2009, also ein Jahr nach dem Erstrelease von Stolen Thoughts, mit Anno Domini High Definition ein durchaus nicht unähnliches Konzept umgesetzt haben, freilich mit doch markant anderen musikalischen Mitteln. Trotzdem bleibt eine Geistesverwandtschaft erhalten, und wer die einen mag, darf auch den anderen sein Ohr leihen. Dass die Grundgestaltung des Covers von Stolen Thoughts ein paar Parallelen zu derjenigen der Debüt-EP aufweist, dürfte letztlich auch kein Zufall sein.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Defend Your Identity | 6:55 |
2 | Stupid Joke | 3:26 |
3 | Sitting In The Red Train | 5:35 |
4 | Yesterday’s Dream | 4:39 |
5 | Memories | 3:02 |
6 | It’s Time To Grow Up | 9:42 |
7 | sNoone | 4:53 |
8 | Asleep | 8:25 |
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Besetzung |
Jakub Roszak (Voc)
Alan Szczepaniak (Git)
Maciej Klimek (Git)
Beata Lagoda (Keys)
Lukasz Marszalek (B)
Robert Kusik (Dr)
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