Die Flügel der Untanzbarkeit: Schulhoff, Gulda, Gershwin und Rachmaninow mit der Robert-Schumann-Philharmonie




Info
Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie

Zeit: 29.01.2025

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Philip Flauder

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Anderthalb Wochen vor diesem Konzert ist in Chemnitz das Veranstaltungsjahr eröffnet worden, in dem die Stadt (zusammen mit dem slowenischen Nova Gorica) den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt tragen darf – Anlaß für eine große Palette von Veranstaltungen, und es bleibt gespannt abzuwarten, ob diejenigen, die unabhängig vom Kulturhauptstadtjahr sowieso stattgefunden hätten, wie die Sinfoniekonzerte der Robert-Schumann-Philharmonie, profitieren können, indem neues Publikum zu ihnen findet, oder ob es ihnen im Gegenteil abträglich ist, weil sich die Besucher 2025 zwischen einer riesigen Auswahl von Optionen, ihr Geld auszugeben und ihre Zeit zu verbringen, entscheiden müssen. Konzert Nr. 5 der Saison 2024/25 scheint zumindest am ersten Abend eher den Zweiflern recht zu geben, ist der Große Saal der Stadthalle doch recht übersichtlich gefüllt.

Das Programm enthält allerdings einige ungewöhnliche Werke, die man nicht an jeder Ecke erleben kann. Das geht gleich mit den Fünf Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff los, die an diesem Abend im Orchesterarrangement von Manfred Honeck und Tomáš Ille erklingen und bei denen man sich schon nach dem ersten, „Alla Valse Viennese“, fragt, wie das als Streichquartett funktioniert haben soll (und man nimmt sich vor, gelegentlich die Originalversion nachzuhören). Alle fünf Sätze sind einem bestimmten Tanz nachempfunden, aber hier entsteht nach kurzem Eröffnungsdrama eine nur latent walzerangelehnte Struktur, so eine Art Free-Jazz-Walzer vielleicht. Der dritte, eher kurze Satz „Alla Czeca“ wiederum ist in der Orchesterfassung derart von den Percussions dominiert, dass auch hier die Frage drüberschwebt, wie das als Streichquartett geklungen hat. Dazwischen liegt „Alla Serenata“ mit Spuk à la Mussorgskis „Hütte der Baba-Yaga“, während „Alla Tango milonga“ ein melancholisches Grundgefühl transportiert, allerdings auch nicht praktisch tanzbar wäre. „Alla Tarantella“ macht dann nochmal gnadenlos Tempo, abermals sehr perkussiv dominiert, allerdings mit eleganten Offbeat-Strukturen, und ein großer Gongschlag stellt eine wirkungsvolle Zäsur vor dem Exzelsior-Finale dar.

Heidrun Sandmann, bereits viele Jahre als Konzertmeisterin der Robert-Schumann-Philharmonie wirkend und mittlerweile Heidrun Sandmann-Poscharsky heißend, gräbt gern eher selten gespielte Violinkonzerte aus, die dann in den regulären Orchesterkonzerten ihren Platz finden. Das ist auch in diesem Programm wieder einmal so. Friedrich Gulda kennt man eher als Pianist, und zwar als Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz – sein 1974 geschriebenes, „Wings“ betiteltes Konzertstück für Solovioline, Streichorchester und Rhythmusgruppe fristet hingegen wie das Gros seiner Kompositionen ein Schattendasein, obwohl sich so manches davon prima eignet, um die Schranken zwischen U- und E-Musik einzureißen und Publikum aus beiden Sparten zu begeistern. Hier gehört interessanterweise schon das Stimmen des Orchesters zum Stück, das dann von der Solistin rabiat unterbrochen wird, die den ersten Satz „Liberamente Sempre“ quasi als riesige Kadenz allein zu spielen hat, nur gelegentlich von einzelnen Orchesterakkorden unterbrochen. Das könnte für den Nicht-Violin-Spezialisten etwas anstrengend sein, aber der darf sich auf den zweiten der allesamt attacca zusammenhängenden Sätze freuen, ein Lento, in dem die Violinistin, die vorn aufgebaute Rhythmusgruppe aus Peter Fischer (E-Baß) und Frank Lange (Schlagzeug) sowie das von Friedrich Praetorius (Foto) kompetent geleitete Orchester, nachdem erst der Pauker und dann auch der Drummer einen Teppich ausgerollt haben, quasi langsamen, aber dennoch vorwärtsdrängenden Orchesterjazz mit darüber schwebender oder schwirrender Solovioline spielen, so eine Art Big-Band-Sound, nur halt ohne Bläser – und diesen Spagat aus Langsamkeit und Vorwärtsdrang hinzubekommen ist alles andere als einfach und stellt Praetorius ein prima Zeugnis aus. Satz 3 ist quasi eine verkürzte Reprise des ersten, also wieder eine Violinkadenz, diesmal in etwas tieferen Lagen, während das abschließende Allegro assai erneut alle involviert, diesmal im treibenden Midtempo, wobei die Violinistin sich oft und gern mit dem Drummer soloduelliert, dann aber auch wieder mit dem ganzen Orchester herumjazzt. Ein kurz-knackiges Finale hängt an, und das Stück hat zu gefallen gewußt, nimmt man den anschließenden Jubel als Gradmesser.

Sandmann-Poscharsky ist danach gleich nochmal im Einsatz, weshalb sie auf eine Solistenzugabe verzichtet – die anschließende Fantasie über „Porgy und Bess“ für Violine und Orchester, aus der Musikfassung für die Verfilmung dieser Oper arrangiert von Alexander Courage, geht quasi auch als Zugabe durch. Das vielfältige Motive verarbeitende Potpourri dürfte für Fans ein gefundenes Fressen darstellen, ermüdet aber den nicht mit dem Film und nur latent mit dem Gershwin-Original vertrauten Hörer recht schnell, zumal an diesem Abend der Emotionenfaktor selbst bei „Summertime“ irgendwo in der Nähe der Grasnarbe liegt, da das Stück enorm straight und trocken herüberkommt und nur ganz zum Schluß hin so etwas wie vibrierende Emotionalität aufkommt. Die bleibt allerdings ein Strohfeuer, und trotz kompetenter Einzelleistungen wie den gelegentlich sehr intensiv wütenden Schlagwerkern dehnt sich das Stück wie Kaugummi. Der Applaus ist okay, aber viel weniger enthusiastisch als nach dem Gulda-Konzert.

Nach der Pause liegen die Sinfonischen Tänze op. 45 von Sergej Rachmaninow auf den Pulten, analog zu denen von Schulhoff nur unter großen Schwierigkeiten oder gar nicht tanzbar. Am geeignetsten wäre theoretisch noch das (Non) Allegro an erster Position, unter dem nach den einleitenden tastenden Versuchen eine nur im großen Zentralbreak unterbrochene einheitliche vorwärtsdrängende, wenngleich manchmal fast auf unterschwelliges Niveau zurückgefahrene Motorik liegt. Im besagten Break schafft es Praetorius, viel Spielruhe aus dem Orchester zu holen – ein einzelner Huster torpediert freilich die Spannung. Die fahlen Orchesterflächen im hinteren Teil des Breaks, wirkungsvoll klavierunterstützt, wissen stimmungsseitig allerdings zu überzeugen.
Das Andante con moto ist mit dem Untertitel „Tempo di valse“ versehen, wobei niemand an fröhliche Johann-Strauss-Eskapaden denken sollte – hier herrscht die Melancholie. Praetorius fordert immer wieder groß ausschwingende Bögen vom Orchester und bekommt sie auch, während der Mittelteil geschicktes Manövrieren in kleinteiligen Strukturen verlangt. Wie man einige Bratschenflächen so klingen läßt, als säßen die Spieler unter der Bühne und nicht darauf, das ist schon Kunst, und gegen Ende entwickelt der Satz doch noch so etwas wie Dynamik.
Das den dritten Satz einleitende Lento assai fällt kurz aus. Tempoansätze verhuschen immer wieder, die Dramatik der Glocken verschwindet ins Nichts, und auch wenn Allegro vivace über dem Hauptteil dieses Satzes steht, so bezieht auch er seine Wirkung eher aus dem düsteren Mittelteil, wenn die Celli phasenweise so klingen, als steckten sie im Sumpf fest. Praetorius’ Aufgabe ist hier, das Orchester so klingen zu lassen, als zerre es an Ketten, könne diese aber nicht sprengen, und das meistert er auch, ebenso wie das mehrstufig wütende Finale mit seiner abermaligen Tiefstreicherdominanz. Einzig der nachhallende Gongschluß, den der Dirigent schließlich reichlich spät abwinkt (das machen die meisten Kollegen viel eher), wirkt hochgradig merkwürdig, was das Publikum aber nicht vom reichlichen Applausspenden abhält.


Roland Ludwig



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