Alkohol im Dröhnland: Thomas Hüetlin nähert sich dem Phänomen Udo Lindenberg in dessen eigener Schilderung![]() ![]() ![]()
![]() Udo Lindenberg einem deutschen Leser noch groß vorzustellen hieße die sprichwörtlichen Eulen nach Athen zu tragen – der Bekanntheitsgrad des Sängers dürfte bei großen Teilen der Bevölkerung außer vielleicht den ganz Alten, den ganz Jungen und denen mit noch nicht lange zurückliegendem Migrationshintergrund in der Nähe von 100% liegen. Dennoch gab es Zeiten, in denen Lindenberg wenig bis gar nicht im Fokus der Öffentlichkeit stand, und generell erscheint natürlich ein Überblick über sein Leben eine reizvolle Angelegenheit für so manchen seiner Anhänger zu sein. Also erzählte er dem Journalisten Thomas Hüetlin quasi seine Lebensgeschichte, und dieser goß sie mit zusätzlichen Informationen von Familienmitgliedern und künstlerischen wie geschäftlichen Weggefährten in die Form eines Buches, das den ebenso simplen wie wirkungsvollen Titel „Udo“ trägt und damit auch vom Selbstbewußtsein spricht, dass der Leser dahinter schon eine Lindenberg-Biographie vermuten wird und eben keine etwa von Jürgens oder Dirkschneider. Für die Zweifler ist der Protagonist aber natürlich auch auf dem Cover abgebildet, mit seinen Markenzeichen Sonnenbrille und Hut selbstverständlich, wobei er erstgenannte interessanterweise etwas verschoben hat. Das Bild ist nicht datiert, sondern nur mit dem Copyright von Tine Acke versehen, die seit Mitte der Neunziger an Udos Seite ist, und aus dieser Zeit könnte die Aufnahme auch stammen. Hüetlin erzählt Lindenbergs Leben weitgehend chronologisch, mit einer großen und einigen kleineren Ausnahmen. Die große Ausnahme steht gleich am Anfang, denn das erste Kapitel beginnt im Jahr 2006, als Udos älterer Bruder Erich Lindenberg stirbt und dieses Ereignis in Udo, der sich gerade an einem künstlerischen wie menschlichen (will heißen, alkoholbedingten) Tiefpunkt befindet, einen Willen zur Veränderung der festgefahrenen Situation hervorruft, der zwei Jahre und knapp fünfzig Seiten später in einem triumphalen Comebackalbum namens Stark wie zwei mündet. Danach gibt es einen Zeitsprung ins Gronau der Zwischenkriegszeit, also bis zu Udos Großelterngeneration, und von da an bewegt sich die Schilderung wie erwähnt weitgehend chronologisch durch Udos Leben. Die Abweichungen kommen in den hinteren Kapitelkomplexen, die sich beispielsweise mit dem politischen Engagement des Barden befassen und sich an einigen Stellen mit den anderen Komplexen verschränken. Am Ende überholt die Schilderung dann den ersten Kapitelkomplex und endet tatsächlich mit den Aktivitäten zur Promotion des 2016 erschienenen Stärker als die Zeit-Releases, des 35. Lindenberg-Albums und bis heute seines aktuellsten Studiowerkes. Der Rezensent hat einen der zugehörigen Tourgigs in Leipzig gesehen – nicht den im Buch beschriebenen, der im Zentralstadion stattfand, sondern einen Hallengig in der Arena, aber schon bei diesem war der betriebene Aufwand immens, um sozusagen ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne zu bringen, wie Udo es seit der „Dröhnland Symphonie“ in den frühen Achtzigern nicht mehr realisiert hatte. Letzteres Projekt, in Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Peter Zadek entstanden und immens spannungsgeladen, was die Verquickung damals noch strikt getrennter Welten anging, nimmt einen ziemlich breiten Raum in der geschichtlichen Schilderung ein, wohingegen Udo und Hüetlin andere Phasen weitgehend oder gar komplett außen vor lassen, beispielsweise das Album Keule, mit dessen radikal reduzierter und hart-trockener Art der Sänger weiland einen bewußten Kontrapunkt zum quasi orchestralen Bombast der vorausgegangenen „Dröhnland Symphonie“ setzte. Mit solchen Brüchen in der Schilderung muß man also klarkommen und darf nicht erwarten, eine wirklich konsistente und lückenlose Schilderung des Schaffens des Mannes, der die deutschen Texte in der Rockmusik für breite Schichten in der damaligen Bundesrepublik goutierbar machte, geliefert zu bekommen. „Udo“ ist ein literarisches Werk ohne wissenschaftlichen Anspruch, und somit benennt Hüetlin seine anderen Gesprächspartner auch nur per Aufzählung, verzichtet komplett auf Dinge wie Diskographie oder Quellenverzeichnis, und Liebhaber von Fußnoten gehen auch leer aus. Was der Autor exzellent hinbekommen hat, ist das Treffen von Udos schnoddrigem Erzählton, den er quasi vom Songtext in die große Buchform überträgt. Das liest sich dann hochgradig unterhaltsam, und man beginnt gar nicht erst nach dem Wahrheitsgehalt so mancher Anekdote zu fragen. Jeder der erwähnten Kapitelkomplexe (bis auf den letzten, in dem es um das erwähnte 2016er Album geht) besteht aus drei bis vier Einzelkapiteln, und jedes von diesen Einzelkapiteln beginnt mit den Worten „Stell dir vor“, was natürlich kein Zufall ist. Außerdem ist immer der Anfang in der Form „Stell dir vor, Du tust dies und das“ gehalten, also quasi eine direkte Anrede des Protagonisten (wie im ideengebenden Songtext auch), ehe die Schilderungen dann im normalen Prosagestus, garniert mit viel wörtlicher Rede und einigen Songtextausschnitten, weitergehen. Die meisten dieser Songtextausschnitte sind layouterisch vom Rest des Textes abgehoben, einige aber auch in den Fließtext eingewoben, und der Lindenberg-affine Leser freut sich natürlich, wenn er wieder mal eine Anspielung entdeckt hat. Gewisses Fremdschämpotential birgt der erste Kapitelkomplex, wenn Hüetlin schildert, wie Produzent Andreas Herbig den Sänger bewußt vom klassischen Stadionrock wegbewegt, und dabei Herbigs Ansichten unkommentiert übernimmt, wodurch dann etwa Survivor zu „Stumpf-Rockern“ mutieren und klar wird, dass weder Herbig noch Hüetlin sich die Mühe gemacht haben, das Schaffen von Skew Siskin verstehen zu wollen, deren Gitarrist Jim Voxx einen Machtkampf mit Herbig verlor und letztlich nicht an Stark wie zwei mitwirkte. Keinerlei kritisches Wort gibt es zu der Entwicklung, dass Lindenberg mit diesem und dem erwähnten jüngsten Album quasi zu einer vom Produzenten geformten Künstlerfigur mit nur noch sehr überschaubarem eigenem kreativem Einfluß degradiert wurde, den man gnädigerweise (zusammen mit teils bis zu sechs anderen Leuten) noch an den Texten mitschreiben läßt, während die Songs entweder von Studioangestellten oder externen Songwritern zugeliefert werden – eine im Pop seit Jahrzehnten übliche Vorgehensweise, der sich gerade Lindenberg aber lange verweigert hatte, selbst wenn es ihm in alkoholbedingten Problemphasen mehr oder weniger egal war, was die anderen beteiligten Musiker oder der Produzent aus dem von ihm erstellten Rohfassungen der Songs machten. Aber da waren eben wenigstens diese Rohfassungen noch von ihm, die Texte und auch die Musik, und damit handelte es sich immer noch um Lindenbergs originäre Schöpfungen, während die neuen Alben, so gut sie auch gemacht sind, quasi das Bild transportieren, das sich Herbig von Lindenberg macht. Kommt man mit diesem Umstand klar, ist „Udo“ durchaus interessante Lektüre, zumal der Protagonist und sein Autor die zahlreichen Tiefen im Leben des Künstlers nicht verschweigen, sondern gerade seine Alkoholabhängigkeit in vielen Einzelheiten darstellen – und der Rezensent, bekanntlich Abstinenzler, liest hier von diversen Getränken, von denen er nie zuvor gehört hat. Dass der Sänger auch bildkünstlerisch tätig ist, ist ja allgemein bekannt, und so stammen auch die Illustrationen des Buches von ihm, allerdings Strichzeichnungen und keine von den von ihm erfundenen Likörellen. Fotos o.ä. gibt es hingegen im Buch, vom Titelmotiv abgesehen, nicht. So liest sich „Udo“ unterhaltsam – eine auf wissenschaftlicher Basis erstellte Lindenberg-Biographie bleibt aber weiter ein Desiderat, da auch die mittlerweile zahlreichen anderen biographischen Veröffentlichungen nicht in diese Richtung gehen, auch nicht „Panikpräsident“, die schon 2004 in einer ähnlichen Konstellation erschienene Autobiographie (damals mit Kai Hermann und während einer Zeit, in der der Protagonist ganz tief im Alkoholsumpf steckte und in den Karriereabgrund blickte). Angesichts der im Haupttext erfreulich geringen Fehlerdichte verwundert, dass Hüetlins Danksagung offenbar niemand Korrektur gelesen hat, denn dort sind auch noch in der dem Rezensenten vorliegenden zweiten Taschenbuchauflage etliche Namen falsch geschrieben, die im Hauptteil in korrekter Schreibweise vorkommen. Unangenehm fällt zudem auf, dass der auf S. 208 zitierte Text von „Wozu sind Kriege da?“ die Zeile „Oder geht’s da nebenbei auch um so religiösen Mist“ enthält – das sang Lindenberg in diversen Liveversionen tatsächlich so, in der originalen Studiofassung aber „Zwist“ und nicht „Mist“. Zitatquelle soll hier das offizielle Songbook auf Udos Homepage sein, vielleicht stammt diese Geschichtsfälschung also schon von dort. Ein Klick hilft weiter – und offenbart, dass dort korrekt „Zwist“ steht. Aber wie bereits geschrieben: Detailprüfungen erspart man dem Werk lieber und liest es als Belletristik, so ähnlich wie man auch dem unlängst erstellten biographieangelehnten Lindenberg-Spielfilm „Mach Dein Ding!“ künstlerische Freiheit zugestehen mußte. Kommt man mit dieser Herangehensweise klar, macht die Lektüre über weite Strecken richtig Spaß. ![]() Roland Ludwig ![]() ![]() ![]() |
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