Scheiß auf den Krebs: Bruce Dickinson und seine Autobiografie „What Does This Button Do?“![]() ![]() ![]()
![]() Dass Bruce Dickinson in kreativer Hinsicht nicht nur ein Mann der Töne, sondern auch einer des Wortes ist, dürfte allgemein bekannt sein. Zum einen schreibt er, wenn auch nicht in großem Umfang, Lyrics sowohl für Iron Maiden als auch für seine Solonummern, zum anderen erinnern sich einige Anhänger skurriler Literatur vielleicht noch an seine beiden grotesken Lord-Iffy-Romane, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. So verwundert nicht, dass es sich der Sänger auch zutraute, für eine Autobiografie höchstselbst zum Stift zu greifen – offiziell ist nirgendwo jemand als Co- oder Ghostwriter vermerkt, der am 2017 in Englisch und ein Jahr später auch in Deutsch erschienenen „What Does This Button Do?“-Werk mitgewirkt hat. (Beim genaueren Lesen entdeckt man in den Danksagungen allerdings Mary Henry, die das Material, vom Autor himself launig als „Brucescher Stein von Rosette“ bezeichnet, in Form gebracht und vor allem mittels Streichungen von Anekdoten von 160.000 auf 110.000 Wörter reduziert zu haben scheint.) 2019 gab es die deutsche Version dann auch als Taschenbuch, und das, was der Rezensent vor sich hat, ist die 2022 herausgekommene 3. Auflage dieser Taschenbuch-Ausgabe. Inwieweit sich die von den früheren Ausgaben unterscheidet, kann er nicht beurteilen. Text über die Ereignisse der allerjüngsten Vergangenheit hinzugekommen ist jedenfalls nicht – das Buch endet mit Dickinsons „Rückkehr ins Leben“ nach seinem erfolgreichen Kampf gegen den HPV-Krebs anno 2015/16. Wer also Näheres über die Entstehung des Senjutsu-Albums wissen möchte, der wird hier nicht fündig. Aber auch die anderen Alben und ihre Entstehung sind oftmals nicht sonderlich detailliert abgehandelt – das Buch ist auch in seiner komprimierten Form im Prinzip noch eine riesige Anekdotensammlung, nur halt eine in Form gebrachte und faktenunterlegte. Natürlich fokussiert sich auch Dickinson wie schon Joe Shooman in seiner ein Jahrzehnt früher entstandenen Biographie auf eine halbwegs chronologische Darstellung des Lebens und Schaffens, aber er legt viel mehr Wert auf das Menschliche in seiner Entwicklung – und naturgemäß kann er aus viel mehr Wissen schöpfen als Shooman, der seine Fakten aus den Interviews mit dem Protagonisten, mit Menschen aus dessen Umfeld sowie von Aussagen in Primär- und Sekundärquellen gewinnen mußte. „What Does This Button Do?“ hingegen ist eher Milieustudie als Musikerbiographie, obwohl sich aus dem Milieu natürlich das musikalische Sujet samt der entsprechenden Details automatisch ergibt – aber eben nicht nur das. Dickinson erzählt neben den musikalischen Dingen vor allem gern und ausführlich über seine Passion für das Fliegen und seine praktischen Erfahrungen mit den verschiedenen Flugzeugtypen auf allen möglichen und unmöglichen Routen, so dass das Buch zwar das eines Metal-Sängers ist, aber sich mit Flugzeugenthusiasten noch eine nicht unbeträchtliche Sekundärzielgruppe auftut, wenn man es denn irgendwie schafft, ihr das Werk schmackhaft zu machen. Sehr ausführlich geht der Sänger auf den Auftritt mit seiner Band im belagerten Sarajevo ein – wenn man die Stadt wie der Rezensent mit eigenen Augen kennengelernt hat (wenngleich erst lange nach Kriegsende), liest man dieses Kapitel natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit, zumal Shooman hier zwangsweise an der Oberfläche, also der bisher offiziell verbreiteten Schilderung, bleiben mußte. Auch über seine Kindheit und Jugend läßt sich Dickinson tiefgründiger und facettenreicher aus – späteres Familiäres beschloß er hingegen von Beginn an außen vor zu lassen, und somit tauchen seine Frauen und Kinder noch deutlich seltener auf als bei Shooman, nämlich ausschließlich in der Widmung zu Beginn des Buches, und die einzige Frau, deren Beziehung zu Dickinson wenigstens ein bißchen ausführlicher geschildert wird, ist die Studentin der Zahnmedizin, mit der er einst seine Unschuld verlor. Auch statistische Dinge wie eine Diskographie sucht man in „What Does This Button Do?“ vergeblich. Wir haben sozusagen eher ein literarisches Werk vor uns, dessen Sujet zufälligerweise ein Musiker ist. Natürlich ist Dickinson bewußt, dass die Musik ihm dorthin verholfen hat, wo er jetzt steht, und natürlich ist er Gentleman genug, sein Umfeld der jüngeren Jahrzehnte zwar gelegentlich zu piesacken, aber nicht vollends in die Pfanne zu hauen – auch Steve Harris bekommt gelegentlich sein Fett weg, aber zugleich würdigt der Vokalist die Lebensleistung des Bassisten, Iron Maiden über die Jahrzehnte hinweg am Leben gehalten und zu immer neuen Höhen geführt zu haben, wovon natürlich auch er maßgeblich profitiert hat. Wäre er nach dem Geschichts-College-Abschluß irgendwo als Geschichtslehrer in einer englischen Provinzschule gelandet, er wäre wohl nie Fechter und Pilot geworden, auch wenn man sich dieses Energiebündel irgendwie nicht in irgendeinem „normalen“ Job vorstellen kann. Diese unbändige Energie half ihm nicht nur, Dinge zu tun, für die andere Leute zehn Leben brauchen würden, sondern war auch für seine Haltung verantwortlich, als 2014 bei ihm HPV-, also Zungenkrebs diagnostiziert wurde, nachdem er die letzten Stücke für das The Book Of Souls-Album eingesungen hatte. Zwar entpuppte sich der Weg zum Sieg über den Krebs als qualvoll, aber am Ende stand eben der Sieg – Dickinson beschreibt den Prozeß in aller Ausführlichkeit und nimmt dadurch ein wenig den Schrecken von potentiellen Lesern, die die gleiche Diagnose bekommen haben: Sie können sich darauf einstellen, was ihnen blühen wird, und somit ganz anders mit den Behandlungen und ihren Folgen umgehen, auch wenn man trotz der blumigen Sprache Dickinsons natürlich harte Nerven braucht, um sich bei diesen Schilderungen nicht zumindest gepflegt zu gruseln, sondern das Positive im Negativen zu sehen. Harte Nerven verlangen allerdings auch die Schilderungen des Schulalltags im England der 1960er und 1970er Jahre, und dort ist es dann vorbei mit der gentlemanhaften Zurückhaltung – das, was etwa ein Gutteil der Pädagogen an der Oundle-Privatschule in den frühen Siebzigern an Prügel- und ähnlichen Strafen auspackte, würde heute locker für die Entlassung aus dem Schuldienst reichen. Auch hier benennt der Autor allerdings die Ausnahmen, ebenso differenziert er bei seinen Mitschülern – und dass er in diesem Umfeld aufmüpfig wurde, verwundert letztlich nicht, wenngleich verwundert, dass er sich als Erwachsener auch problemlos in streng hierarchische Systeme einzugliedern verstand: Dienst als Pilot verlangt ein solches System. Möglicherweise hat seine jahrelange Fechterlaufbahn hierfür die Grundlage gelegt, denn auch hier kommt man mit Regelverstößen nicht weit – die Beschäftigung mit diesem Sport reicht auch schon in seine Oundle-Zeit zurück, was Dickinson nicht zu erwähnen vergißt. So bietet „What Does This Button Do?“ einen sehr persönlichen Einblick in das Leben eines der wichtigsten Metal-Sänger der Geschichte, der gerade dadurch an Reiz gewinnt, dass sich in diesem Leben zahllose Dinge ereignen, die mit dem typischen Alltag eines Metal-Sängers nichts zu tun haben. Interessant ist, dass mit Matthias Jost, Daniel Müller, Harriet Fricke und Dieter Fuchs gleich vier Übersetzer für die Übertragung ins Deutsche verantwortlich zeichnen – was zuerst verwundert, könnte sich aus der erwähnten Vielfalt im Leben Dickinsons erklären, so dass man unter den Übersetzern z.B. einen Metaller, einen Luftfahrtexperten, einen Arzt und einen Historiker oder Sportexperten vermuten könnte, von denen jeder auf seinem Fachgebiet gebraucht wird, um die Fachtermini korrekt zu übersetzen. Das Ergebnis wirkt jedenfalls nicht wie zusammengestückelt, sondern wie aus einem Guß und läßt sich sehr angenehm und flüssig lesen. Zwei Blöcke mit Bildern von 1973 bis kurz vor Redaktionsschluß ergänzen das Buch, in dem sich lediglich noch der für die Auswahl der Schriftart der Seitenzahlen Verantwortliche eine Kritik einhandelt. Merke: Die Seitenzahl ist ein Ordnungs- und Gliederungsinstrument und muß daher auf den ersten Blick erfaßbar sein – im vorliegenden Fall wurde eine verschnörkelte Schriftart mit teils recht ähnlichen Ziffern in auch noch recht kleiner Schriftgröße gewählt, so dass man drei-, viermal hinsehen muß, um zu ergründen, auf welcher Seite man gerade ist. Zwar gibt es kein Register o.ä., aber auch wenn man sich mittels des Inhaltsverzeichnisses zu einem der 45 Kapitel (deren mit Abstand längstes übrigens das letzte, „Scheiß auf den Krebs“ überschriebene ist) begeben will, ist die Fähigkeit, auf den ersten Blick zu erkennen, welche Seite man gerade aufgeschlagen hat, eine Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Nutzbarkeit des Buches – es sei denn, man liest es in einem Rutsch von vorn bis hinten. Das Zeug dazu hätte „What Does This Button Do?“, und aufgrund seiner beschriebenen Ausrichtung ergänzt es sich prima mit Joe Shoomans Buch, so dass, wer sich für Dickinson interessiert, zwar grundsätzlich die Wahl hat, aber auch bedenkenlos zweimal zugreifen kann, ohne Gefahr zu laufen, wegen „Das weiß ich doch schon alles“ ins Gähnen zu kommen. Dass sich ein paar Schilderungen in den beiden Büchern etwas voneinander unterscheiden, ist dabei sozusagen als Salz in der Suppe zu betrachten. ![]() Roland Ludwig ![]() ![]() ![]() |
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