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Arktische Nachtwandler ohne Arme: Rautavaara, Martinsson und Strauss bei der Robert-Schumann-Philharmonie

Info

Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie

Zeit: 10.04.2024

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Julia Wesely

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Nicholas Milton hatte anno 2023 ein Sonderkonzert der Robert-Schumann-Philharmonie geleitet, nämlich dasjenige mit Musik aus James-Bond-Filmen. Nun kehrt er innerhalb des regulären Sinfoniekonzertbetriebs ans Pult im Großen Saal der Chemnitzer Stadthalle zurück, allerdings abermals mit einem relativ ungewöhnlichen Programm.

Musik von Einojuhani Rautavaara begegnet man in den hiesigen Konzertsälen nicht sonderlich oft, und sein Cantus Arcticus op. 61 ist vielleicht sogar dasjenige Stück, dem man vergleichsweise noch am häufigsten lauschen darf – der Rezensent hört es an diesem Abend zum dritten Mal, nach dem Bundesjugendorchester 2007 und dem MDR-Sinfonieorchester 2018. Die Originalität des Werkes läßt es im Falle einer guten Interpretation und annehmbaren akustischen Bedingungen allerdings fast garantiert zu einem Highlight werden, und das gelingt auch in Chemnitz. In die drei Sätze sind anstatt Soli von Orchesterinstrumenten Mitschnitte des Gesanges skandinavischer Vögel eingemischt, was regelmäßig für Überraschung bei dem Teil des Publikums sorgt, der das Werk noch nicht kannte, vorher nicht das Programmheft gelesen hat und auch nicht bei der Konzerteinführung war. So ist es auch in Chemnitz, nachdem Milton im Eröffnungssatz „The Bog“ die Flöten sehr flüssig auf die Klangreise geschickt hat und sich alsbald die ersten Vögel akustisch bemerkbar machen. Die allgemeinen Soundverhältnisse im Großen Saal der Stadthalle, die den Klang auch und vor allem in den Tutti schnell in die Breite ziehen und dadurch mehr Transparenz ermöglichen, stellen sich in diesem Kontext als sehr günstig heraus, und die Technikfraktion versteht ihren Job offenkundig, wozu Miltons Händchen für gute Balance tritt, so dass die Vögel selbst im dunkelromantischen Orchestertutti noch wahrnehmbar bleiben. Der Dirigent bekommt zudem den Spagat zwischen Bedächtigkeit und Vorwärtsdrang gebacken, und so entsteht schon hier eine wunderbare Klangwelt.
In „Melancholy“ kommen die Vögel akustisch nicht von gaaaanz weit unten wie 2007 im Gewandhaus, aber doch von sehr weit unten, die Balance überzeugt einmal mehr, und den zauberhaften Schluß der im Klangsumpf versinkenden Tiefstreicher muß man erstmal so hinbekommen, wie die Chemnitzer das hinzaubern.
„Swans migrating“ heißt der dritte Satz, aber außer Schwänen sind da auch noch andere Vogelarten unterwegs, die sich zu einem dichten polyphonen Geflecht vereinen und von Milton sehr dynamisch in die richtige Richtung gelenkt werden, wobei das Tempo weit unten bleibt. Die Solotrompete agiert recht durchdringend, aber wie man selbst hier im feisten Tutti den Vogelschwarm noch ziehen hört, das gehört mal wieder zu den ganz großen Momenten. Das Publikum zeigt sich trotzdem eher verwirrt – nach dem knappen Schluß und der schnellen akustischen Ausblendung des Bandes entspinnt sich freundlicher, aber etwas unschlüssiger Applaus, der zur exzellenten Darbietung in keiner angemessenen Relation steht.

Der Hornist Felix Klieser (Foto) war bereits 2018 bei der Robert-Schumann-Philharmonie zu Gast gewesen. An diesem Abend nun erklingt ein von ihm in Auftrag gegebenes Werk: „Soundscape. A Walk in Colours“ op. 118 des schwedischen Komponisten Rolf Martinsson, uraufgeführt erst 2022 von Klieser und der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter der Leitung von Petr Popelka, also sozusagen noch brandneu und vermutlich von kaum einem der Besucher schon einmal gehört. Klieser hat bekanntlich keine Arme und spielt das Horn daher mit den Füßen – aber kreativen Einschränkungen hat sich der Komponist trotzdem nicht unterwerfen müssen. Das einsätzige Werk wandelt, wie der Titel schon assoziiert, durch verschiedene Stimmungen und Klangfarben, beginnend mit finsterer Dramatik, in der das Solohorn zunächst nur in einzelnen Einwürfen in Aktion tritt. Der „Seitengedanke“ zeigt sich zurückhaltend, wird aber dynamischer – nur kommt diesmal Miltons Händchen für Balancegestaltung nicht durchgängig zum Vorschein, verschwindet Klieser hier und da ein wenig zu sehr im Gesamtklang. Die große Elegie gerät aber richtig schön und hält das ganze Spektrum von sinister bis lieblich bereit, und was Martinsson da als Duett von Horn und Glockenspiel konzipiert hat, das überzeugt ebenso wie die konzertmeisterlichen Soli. In den Steigerungen in Richtung Schlußteil verschwindet das Horn dann wieder zu oft, während die treibende Dynamik durchaus zu gefallen weiß, und im speedigen Schluß taucht Klieser akustisch dann hier und da wieder auf. Dass er in den letzten Takten schweigt, ist aber Programm: Die Tiefstreicher faden langsam aus, der Solist hatte schon früher Feierabend. Viel Applaus ist die Quittung für die Darbietung eines Werkes, bei dem sich der allgemeine Klangkosmos erst noch kanonisieren muß. Als Zugabe serviert Klieser eine eigene Bearbeitung von Gioachino Rossinis Hornquartett, praktisch also einen Auszug für Solohorn, der einen sehr jagdlichen Charakter aufweist und vom Publikum bejubelt wird, auch wenn genau das gleiche Stück bereits sechs Jahre zuvor als Zugabe gekommen war. Aber ein Wiederhören ist ja auch schön, zumal wenn’s so viel Spaß macht wie hier.

Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ op. 30 kennt auch der Nicht-Klassik-Anhänger zumindest in bestimmten Ausschnitten – aus der Eröffnung von Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ oder aus der Bierwerbung. Aber das Stück hat natürlich noch viel mehr zu bieten. Milton nimmt die Einleitung sehr langsam, in der ersten Steigerung holpert’s noch ein wenig, danach wird’s passend, der Bombastpegel geht nach oben, und das Ende der Einleitung ist schon für eine Träne der Rührung gut. Das Sehnsuchtsthema aus „Von den Hinterweltlern“ läßt Milton sehr sanglich spielen und überzeugt in der Folge vor allem in den zurückgenommenen Passagen, aber auch seine Dramatikgestaltung kann sich hören lassen. Und wenn in „Von der Wissenschaft“ eine stimmungsmäßig brillante Tiefstreicher-Fuge um die Ecke kommt, eingeleitet von ganz tief in den Eingeweiden wühlenden Kontrabässen, dann wird klar, dass hier vieles richtig gemacht worden ist – nicht alles, wohlgemerkt: In „Der Genesende“ etwa birgt die Wiederkehr des Naturthemas durchaus noch Reserven. Kuriosum: Über manchen Bläserflächen könnte man sich fast diverse Vögel aus dem Rautavaara-Konzert vorstellen.
Der zweite Teil entwickelt unterschwellig sehr viel Zug zum Tor, die Bläser agieren gellend, fast überdreht, der Tanz ist eigenartig genug, dass man fast über die eigenen Füße stolpert, und obwohl die großen Tutti etwas zu diffus daherkommen, gelingt der Übergang ins „Nachtwandlerlied“ ultralaut und ultrabrutal – das ist unter den geschilderten akustischen Verhältnissen in der Stadthalle gar nicht mal so leicht hinzubekommen. Das Nocturne fällt nicht richtig düster aus, wohl aber tonartseitig und strukturell fies, und die Schlußspannung steht nach dem völlig abseitigen Tiefstreichertreiben wie eine Eins, ehe sie dem anschwellenden Applaus Platz macht – ein gekonnter Abschluß eines zwar nicht durchgängig, aber doch über weite Strecken überzeugenden Konzertabends.

Roland Ludwig


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