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Reviews

Dream Theater

Live In NYC (1993)


Info

Musikrichtung: Progressive Metal

VÖ: 18.3.2022 (9.9.2007)

(Inside Out / Sony)

Gesamtspielzeit: 119:42

Internet:

http://www.insideoutmusic.com
lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net

Bevor Dream Theater im Frühjahr 1993 erstmals nach Europa übersetzten und in London ihr erstes Livealbum Live At The Marquee mitschnitten, spielten sie auch in ihrem Heimatland eine lange Reihe von Gigs, beflügelt durch den unerwarteten Erfolg der Single „Pull Me Under“. So stand am 4. März besagten Jahres auch ein Gig im Limelight in New York City an, der gleichfalls für die Nachwelt festgehalten wurde – und hätte es nicht etwas vermessen gewirkt, von einer immer noch relativen Newcomerstatus besitzenden Combo nach nur zwei Studioalben eine Doppel-Livescheibe nachzulegen, so hätte man problemlos auch diesen zweistündigen Gigmitschnitt offiziell herausbringen können und damit zugleich ein musikhistorisch gutes Werk getan.
Warum? Nun, zum einen sind bis auf die „Bombay Vindaloo“ getaufte Jamsession alle veröffentlichten Stücke aus dem Marquee auch auf dem New-York-Mitschnitt vertreten (es sind nur sechs bzw. fünfeinhalb der insgesamt dreizehn bzw. zwölfeinhalb, wenn man das Zwischenspiel „Another Hand“ nicht als vollen Song rechnet). Hier bekäme man also sozusagen die volle Packung, was sich auch auf das Material des aktuellen Albums beziehen läßt. Dessen acht Songs stehen nämlich komplett auch im New Yorker Set, wenngleich nicht in der Albumreihenfolge – ein komplettes Album am Stück zu spielen und das dann auch noch in genau der gleichen Reihenfolge wie in der Studioversion, das war seinerzeit noch nicht en vogue und wurde allenfalls in bestimmten Ausnahmefällen bei Konzeptalben praktiziert. Auch Dream Theater verteilen das neue Material hübsch im Set, starten mit dem ersten „Metropolis“-Teil und schieben dann mit „A Fortune In Lies“ die erste von drei Nummern des When Dream And Day Unite-Debütalbums nach. Allerdings scheint auch das neue Material hinreichend bekannt zu sein – seit der Veröffentlichung von Images And Words ist immerhin schon ein knappes halbes Jahr in Land gezogen, und als James LaBrie zwischen „Under A Glass Moon“ und „Surrounded“ dem Auditorium die Frage „How many people already have the new album?“ stellt, erklingt kollektives Geschrei, das eine sehr große Zahl Exemplare assoziiert, die bereits den Besitzer gewechselt hat. „Ytse Jam“ (auf dem hier rezensierten 2022er Re-Release „Ytste Jam“ geschrieben) ist dann der zweite der Debüt-Songs, LaBrie beantwortet eingangs jedem, der sich schon immer die Frage gestellt hat, wie man das erste Wort korrekt ausspricht, die besagte Frage (es klingt akustisch ein bißchen wie „Jetze“), und Mike Portnoys Drumsolo ist in diese Nummer integriert – wir schreiben wohlgemerkt erst Song 5 in der Setlist, also eine relativ ungewöhnliche frühe Plazierung, wobei man natürlich im Auge behalten muß, dass Dream-Theater-Songs oftmals nicht eben kurz sind, „Metropolis“ also bei anderen Bands quasi für zwei zählen würde. Und eine gewöhnliche Band sind Dream Theater bekanntermaßen sowieso nicht.
Wenn die Setlist aus fünfzehn Nummern besteht und die acht Images And Words-Songs allesamt drinstehen, dazu noch drei vom Debüt (das Drumsolo hat keine Extranummer bekommen, zumal „Ytse Jam“ danach noch weitergeht), bedeutet das praktisch, dass noch vier Positionen zu füllen sind. Die einzige dieser vier Nummern, die auch auf der Marquee-Scheibe zu hören ist, stellt „Another Hand“ dar, ein kurzes Instrumental, das praktisch die Einleitung zum dritten Debüt-Beitrag „The Killing Hand“ bildet. Von den nun noch verbleibenden drei Posten stellt LaBrie die erste ungewöhnlicherweise als neuen Song vor. Zumindest für einige Die-Hard-Anhänger könnte „To Live Forever“ aber alles andere als neu sein, stammt die Nummer doch noch aus den Zeiten des Debütalbums und wurde daher folgerichtig auch 2004 When Dream And Day Reunite-Liveprogramm gespielt. Inwieweit die Nummer in der Dominici-Ära freilich auch zu Liveehren kam bzw. welcher Personenkreis die von ihr existierenden Demoaufnahmen kannte, müssen Kenner dieser ganz frühen Periode beurteilen – die zahlreichen neuen Anhänger bekamen jedenfalls erst 1994 Kenntnis von ihr, als sie die B-Seite der „Lie“-Single wurde, also anderthalb Jahre nach diesem Konzert hier, und somit dürfte für viele der Song tatsächlich neu gewesen sein. Aus einer balladesken Einleitung entwickelt sich eine klassische rückwärtsgewandte Nummer (Achtziger, bisweilen gar in die Siebziger schielend) mit immer wieder Ruhepole setzenden atmosphärischen Elementen und einem entspannten Finale. Vor „Take The Time“ verkündet LaBrie dann, dass das die neue Single sei und dass man nach diesem Song eine kurze Pause einlege – offenbar spielte die Band also zwei Sets, und der CD-Wechsel entspricht auch genau der Settrennung. Besagte Single erschien allerdings nie offiziell, sondern nur als Promoversion.
Set und CD 2 heben mit „Eve“ an, der nächsten Rarität, wieder einer Single-B-Seite nämlich und zwar diesmal tatsächlich einer unbekannten, denn der Song an sich war relativ neu, und die The Silent Man-Single erschien erst ein Jahr später, 1994, und enthielt außer „Eve“ auch noch eine Demofassung von „Take The Time“ als Zusatz. Über einer atmosphärischen Einleitung erhebt sich ein eingesampelter Erzähler, und auch in der Folge bleibt die Livefassung von „Eve“ trotz schrittweisen Einsatzes auch der Drums eher im entspannten Bereich. Erst im zweiten Erzählpart wird die Stimmung durch das hintergründige schnelle Klopfen nervöser, aber mit dem Erzähler hört auch das wieder auf, und es entwickelt sich sozusagen die progmetallische Fassung einer klassischen Powerballade, in der Kevin Moore überwiegend klassisches Piano einstreut und auch Portnoys gelegentliche Fills und Verschiebungen die Entspanntheit nicht stören. Nach knapp fünfeinhalb Minuten und dem dritten und letzten Erzählpart (regulären Gesang gibt es hier nicht) geht „Eve“, das so eine Art gedankliche Vorstufe zu „Space-Dye Vest“ markiert, direkt in „Pull Me Under“ über, in dessen Finale LaBrie in jugendlichem Übermut noch hohe Schreie einbaut, was er späterhin bleiben gelassen hat. Aus heutiger Sicht erscheint immer noch unerklärlich, wie diese trotz des eingängigen Refrains durchaus nicht leicht zugängliche Nummer damals zum Single-Hit werden konnte – alleine davon, was Portnoy unter John Petruccis eigentlich recht straightes Hauptriff legt, dürfte die nicht progmetalgeübte Hörerschaft reihenweise Herzrhythmusstörungen davongetragen haben. Aber es ist nun mal passiert, dass dieser Song zum Hit wurde und nicht etwa die zugänglicheren „Surrounded“ oder „Another Day“. Letztere Nummer folgt hier im Set, einen Saxophon-Gastbeitrag gibt es nicht, sondern Moore übernimmt die fraglichen Passagen mit den Keyboards. Nahtlos hängt das bereits erwähnte „Another Hand“ an, zunächst balladesk, sich aber bald zu klassischem metallischem Midtempo steigernd und immer mehr an raumgreifender Größe zunehmend, ehe nach reichlich zwei Minuten ebenfalls nahtlos der Übergang in „The Killing Hand“ erfolgt, den letzten Beitrag vom Debüt, der in dieser Version zweifach positiv auffällt. Zum einen fehlt das den Fluß ungünstig unterbrechende Orchesterbreak, das man aus späteren Livefassungen kennt, hier noch (Moore wirft dort ein ganz kurzes zischendes Geräusch ein, das als Haken für den Hörer völlig genügt), und zum anderen schreit LaBrie hier auch wieder, diesmal aber planmäßig – er versucht tatsächlich, Charlie Dominicis entrückt-psychotisches Geschrei im Finale zu reproduzieren und nach hinten heraus im Ausdruck gar noch zu übertreffen. Das schafft er nicht ganz, aber er liegt nicht weit von der Ideallinie entfernt, und dieses Ideal erreichen kann vermutlich niemand. Spätere Livefassungen mußten daher von vornherein ohne diesen Versuch auskommen.
Danach kommt der große musikhistorische Moment. Wer mitgezählt hat, dem ist aufgefallen, dass noch eine Nummer im Set unbelegt ist, und die steht jetzt hier am Ende des zweiten Konzertteils: „A Change Of Seasons“. Wir erinnern uns, dass dieser Song zwar schon in den Sessions vor dem zweiten Album entstanden war, auf Druck der Plattenfirma aber nicht für dieses berücksichtigt werden konnte – erst 1995 erschien seine Studioversion dann doch noch als EP. Wir hören hier also eine Frühfassung des Songs, und für Kenner und Liebhaber der besagten Studioversion macht es einen Heidenspaß, hier konzentriert nachzulauschen, was gleich geblieben ist und wo in den zwei Jahren noch Veränderungen vorgenommen wurden. Kaum substantielle Änderungen hat es in den mittleren Sätzen gegeben, der erste der in der Studioversion sieben Sätze wurde aber beispielsweise komplett neu geschrieben und dafür aus der Liveversion ein kurzer einleitender Instrumentalpart gestrichen. Auch im Finale finden sich einige markante Änderungen und längere entfallene Instrumentalteile. Wer das Gesamtschaffen der Band aus dem Effeff kennt, hat sicher auch Spaß an der Prüfung, ob die für die Studiofassung letztlich gestrichenen Passagen später noch irgendwo anders einen Platz gefunden haben. Rein netto hat diese Livefassung 20 Minuten Spielzeit und damit reichlich drei weniger als die Studiofassung. Spannend ist auch eine Untersuchung, wo Derek Sherinian die Passagen und auch die Klangfarben von Kevin Moore für die Studiofassung 1:1 übernommen und wo er Veränderungen vorgenommen hat. Der große Habacht-Bombast-Part von Studio-Minute 12 kommt hier um Minute 10, und LaBrie setzt dort schon zwei Phrasen früher ein als in der Studioversion – die später gefundene Lösung, dort noch instrumental zu bleiben, überzeugt zumindest nach der Anzahl von Durchläufen, die der Rezensent bisher der Liveversion gönnen konnte (naturgemäß deutlich weniger als dem jahrzehntelang geliebten Studiotonträger), mehr, und auch später ab Minute 13 finden sich in der Livefassung noch Gesangspassagen, die dann bei der Studioaufnahme günstigerweise weggelassen wurden. Auch im Finale erleben wir einen weit oben kreischenden LaBrie, an den man sich hier erst gewöhnen muß. Aber als Zeitdokument ist diese 1993er Version natürlich hochgradig wertvoll und dürfte die früheste regulär verfügbare Livefassung dieses Songmeisterwerkes darstellen – lediglich eine siebzehnminütige Demofassung, die im Zuge der Aufarbeitung der Demo-Zeit vor Images And Words den Weg an die Öffentlichkeit fand, ist noch mehrere Jahre älter.
Was kann danach im Zugabenblock noch kommen? Klar, zwei Images And Words-Nummern fehlen noch, und „Wait For Sleep“ und „Learning To Live“ bilden den folgerichtigen Abschluß des Sets, ersteres naturgemäß von LaBrie und Moore im Alleingang bestritten. Fällt einerseits auf, dass das Gros der neuen Songs noch relativ genau den Studiofassungen entspricht (die ja auch brandfrisch waren, so dass es keinen Grund gab, sie schon wieder umzubauen), so gewinnt „Learning To Live“ an Nettospielzeit hinzu, hauptsächlich durch instrumentale Hinzufügungen im Schlußteil. So ist das Dream-Theater-Schaffen quasi permanent im Fluß, die Rolle der New Yorker als spannende Band dauerhaft unterstreichend.
Wie viel anderer historischer Stoff war auch Live In NYC (1993) bereits im frühen neuen Jahrtausend über das bandeigene Label Ytse Jam Records erstmals veröffentlicht worden, damals unter dem Titel New York City 3/4/93, und liegt nun als Re-Release vor, wobei in diesem Falle auch die damalige Fassung ohne ausführliche Liner Notes auskommen mußte, was auf den Re-Release typischerweise auch zutrifft. Interessanterweise ist das Klangbild zwar sauber, aber relativ leise und ein wenig distanziert – um ein den anderen Releases entsprechendes Lautstärkeniveau zu erreichen, muß der Rezensent an seiner Anlage eine komplette Stufe höher aufdrehen. Ob das ein Aspekt dafür war, dass dieses Material in den Archiven verblieb und trotz seines musikhistorischen Wertes nicht veröffentlicht wurde, kann der Rezensent nicht sagen. Im Gegensatz zu den Demo-Alben ist diesem Material hier aber zuzutrauen, dass man es durchaus öfter in den Player wirft und nicht nach ein paar Durchläufen wieder zu den Originalfassungen greift.



Roland Ludwig

Trackliste

1CD 1
21. Metropolis Part I (09:19)
32. A Fortune In Lies (05:18)
43. Under A Glass Moon (07:22)
54. Surrounded (05:58)
65. Ytse Jam / Drum Solo (10:01)
76. To Live Forever (05:58)
87. Take The Time (10:51)
9CD 2
101. Eve (05:26)
112. Pull Me Under (08:23)
123. Another Day (04:36)
134. Another Hand (02:11)
145. The Killing Hand (08:04)
156. A Change Of Seasons (19:59)
167. Wait For Sleep (02:49)
178. Learning To Live (13:26)

Besetzung

James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Kevin Moore (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)
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