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When Dream And Day Reunite - Live
Info
Musikrichtung:
Progmetal
VÖ: 03.12.2021 (02/2005) (Inside Out / Sony) Gesamtspielzeit: 77:41 Internet: http://www.insideoutmusic.com lostnotforgottenarchives.dreamtheater.net |
Nachdem Majesty Chris Collins entlassen und nach längerer Suche ihr Frontmikrofon mit Charlie Dominici neu besetzt hatten, spielten sie anno 1988 ihr Debütalbum When Dream And Day Unite ein, das im Folgejahr 1989 unter dem neuen Bandnamen Dream Theater das Licht der Welt erblickte und im metallischen Underground überwiegend mit Begeisterung aufgenommen wurde. Matthias Herr stellt das Werk gar über das deutlich bekanntere Folgealbum Images And Words (nachzulesen in Vol. 4 seiner Lexikon-Reihe im Kapitel über Shadow Gallery), und auch der hier tippende Rezensent reiht es unter seine bevorzugten Dream-Theater-Alben ein, was in diesem Falle freilich auch gewisse nostalgische bzw. erschließungstechnische Gründe hat, waren diese Scheibe und A Change Of Seasons doch die ersten beiden Dream-Theater-Werke, die in die hiesige Sammlung einzogen, während Images And Words erst nach Awake und Falling Into Infinity folgte, zu einem Zeitpunkt, als die Kollektion schon recht groß geworden war und damit häufige Hördurchläufe auch bei starken Scheiben deutlich seltener auftraten als zu früheren Zeiten – und wir reden hier von einer Epoche, in der es Dinge wie Spotify oder Youtube noch nicht gab und selbst das Internet per se noch in den Kinderschuhen steckte, weshalb als Musikquellen nur die eigene Sammlung, die Sammlungen von Freunden, die ersten Magazinsampler, die wenigen einschlägigen Radio- oder Fernsehsendungen, Konzerte oder gut sortierte Bibliotheken in Frage kamen, wobei der Erstkontakt des Rezensenten mit Awake und mit Falling Into Infinity tatsächlich über die Leipziger Stadtbibliothek stattfand. All diese Entwicklungen aber beeinträchtigten den Status von When Dream And Day Unite als den eines in seinen Augen ganz besonderen und sehr starken Albums nicht.
Auch Dream-Theater-Drummer Mike Portnoy war daran gelegen, das Material des Debüts nicht komplett in Vergessenheit geraten zu lassen, und so baute er als zentraler Verantwortlicher für die Livesetlisten der Band immer wieder einzelne Songs in die Konzertprogramme ein. Was trotz vielerlei Nachfragen jedoch nicht gelang, war eine Neueinspielung des Albums mit James LaBrie am Mikrofon – die rechtliche Situation gab das nicht her, und so ist When Dream And Day Unite bis heute das einzige Dream-Theater-Studioalbum, dessen Material nicht in Studiofassungen mit LaBries Gesang ausgestattet vorliegt. Live mußte sich der Vokalist aber natürlich damit beschäftigen, nicht nur in seiner Frühzeit mit der Band, als diese Songs noch einen breiten Anteil im Set einnahmen, sondern auch in späteren Jahren, wenn wie erwähnt Portnoy den einen oder anderen der Songs auf die Programme setzte und es sich nicht gerade um das Instrumental „The Ytse Jam“ handelte.
Am 6.3.2004 packten Dream Theater für die Besucher ihres Gigs im Pantages Theater in Los Angeles allerdings eine ganz besondere Überraschung aus. Sie spielten zunächst einen regulären knapp zweistündigen ersten Set, kehrten dann für einen zweiten Set auf die Bühne zurück und spielten aus Anlaß des 15jährigen Veröffentlichungsjubiläums von When Dream And Day Unite dessen acht Songs komplett als zweiten Set – und als sei das noch nicht genug, hängten sie als Zugabe noch 20 Minuten Musik an, die auch aus dieser Frühzeit stammte und wo außer Derek Sherinian als Gastkeyboarder noch ein weiterer Gast auftauchte: Kein Geringerer als Originalsänger Charlie Dominici selbst teilte sich im Zugabeblock den Gesang mit LaBrie. Zum Glück liefen an diesem Abend die Bandmaschinen mit, und der zweite Set plus Zugabenblock erschien 2005 in der „Lost Not Forgotten Archives“-Serie auf dem Eigenlabel YtseJam Records und liegt nunmehr auch als einer von deren offiziellen Re-Releases bei Inside Out vor, betitelt treffend When Dream And Day Reunite.
Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Quintett an die originale Albumreihenfolge hält – es geht also mit „A Fortune In Lies“ los, und dieser Block endet mit „Only A Matter Of Time“. Auch die Arrangements bleiben in den ersten drei Songs so gut wie unangetastet – abgesehen von den Passagen, die live nicht 1:1 umsetzbar sind, weil etwa John Petrucci nicht gleichzeitig Lead- und Rhythmusgitarre spielen kann, reproduziert das Quintett das Original fast in identischer Weise. Erst bei „The Killing Hand“, also an Position 4, fallen erste markante Unterschiede ins Auge bzw. ins Ohr, die dazu führen, dass der Song nicht mehr knapp neun Minuten dauert, sondern mehr als zwölf. Das geht gleich mit einem zusätzlichen Part nach dem eröffnenden Akustikgitarrensolo los, auch einige Orchestertürme im Mittelteil sind eine Neuzutat, und für das Gros der Zusatzlänge ist ein Extra-Instrumentalteil vor dem Gesangseinsatz zum letzten Part verantwortlich, der teilweise allerdings auch Melodiebögen aus dem Rest des Songs verarbeitet. In den weiteren vier Songs fällt die Strategie zwischen diese beiden Pole – es gibt immer mal kleine Zutaten, aber nicht im Umfang wie bei „The Killing Hand“, und dazu ein paar kleinere Umbauten.
Dass den Instrumentalisten ihr altes Material auch 15 Jahre später noch locker von der Hand gehen würde, war zu erwarten – die Spannung lag also eher im Faktor, wie sich LaBrie schlagen würde. Klar, urlange Sets war auch er gewohnt und zumindest von früher her auch mit dem Material als Ganzes vertraut gewesen sowie immer mal refresht worden, wenn Portnoy einen der Oldies auf die Setlisten gehievt hatte – aber das sagt noch nichts über seine Tagesform am besagten 6.3.2004 aus, zumal er ja auch da schon einen zweistündigen ersten Set hatte bestreiten müssen. Und prompt wirkt seine Stimme in „A Fortune In Lies“ auch leicht angegriffen – ein Eindruck, der sich in der Folge aber immer stärker verliert: LaBrie singt sich scheinbar stückweise frei, und auch die Kondition spielt mit, selbst wenn er auch in der Folge an einigen wenigen Stellen mal leicht neben der Spur liegt. Es ehrt die Band, dass sie das offenkundig so belassen und nicht nachbearbeitet hat, und in der Gesamtbetrachtung erbringt auch der Sänger eine starke Leistung. Ein kleiner Wermutstropfen fällt in den Becher, wenn LaBrie den letzten hohen Ton auf „Hand“ in „The Killing Hand“ nur kurz ansingen kann und dann wieder verlassen muß – die nochmal höhere Vokalise kurz danach läßt er komplett weg. Gerade das sind die ergreifendsten Passagen dieses Songs, vielleicht sogar der ganzen Originalplatte, und deshalb ist es schade, dass der psychotisch-verzweifelte Charakter des Originals hier nicht reproduziert werden kann. Zum Glück bleibt das der einzige Fall dieser Kategorie, und man freut sich statt dessen über viele gelungene Momente und auch darüber, dass John Myungs Baß in vielen Passagen, wo Petrucci Leads spielt, viel Raum zum Atmen bekommt und der Mann beispielsweise in besagtem Finale von „The Killing Hand“ mit seinem großen raumgreifenden Solo seinerseits einen der besten Parts dieser Liveaufnahme bestreiten darf. Auch das Klanggewand der Aufnahme an sich ist als sehr gelungen zu betrachten.
Was es zwischen den acht Songs nicht gibt, sind Ansagen. Entweder der Nachbearbeiter hat sie rausgeschnitten, oder LaBrie hat tatsächlich keine gemacht und die Musik für sich sprechen lassen; das Wort ergreift er nur bei der kurzen Verabschiedung nach „Only A Matter Of Time“. Auch zu Beginn des neunten Songs gibt es keine Ankündigung, obwohl der nur eingefleischten Anhängern ein Begriff gewesen sein dürfte: „To Live Forever“ stammt ebenfalls aus der Dominici-Periode, wurde damals aber nur demoseitig festgehalten und nicht offiziell eingespielt – das geschah erst Jahre später, nämlich 1994, also schon in der Ära LaBrie, als der Song seinen Weg als B-Seite auf die Lie-Single fand, also auch nicht gerade an prominenter Stelle plaziert wurde. Die Einleitung läßt eine Ballade vermuten (was ein interessanter Gegenpol zum brettharten „Lie“ wäre), aber dann entwickelt sich doch eine klassische melodische Progrock- bis Progmetalnummer, die auf Awake tatsächlich etwas aus dem Rahmen gefallen wäre. Wir erinnern uns: Das Album fährt einmal quer durch die Neunziger, während „To Live Forever“ nicht nur aus den Achtzigern stammt, sondern auch nach diesen klingt (oder gar noch nach den Siebzigern). Dass die Band die Nummer trotzdem zu schätzen weiß, belegt nicht nur die Inklusion in die Setlist dieses Konzertes, sondern auch der Aspekt, dass „To Live Forever“ sogar auf der Compilation Greatest Hit (And 21 Other Pretty Cool Songs) einen Platz eingeräumt bekommen hat. An diesem Abend in L.A. ereignet sich nach dem erwähnten balladesken Intro dann aber Musikgeschichte, denn LaBrie macht tatsächlich eine Ansage aus fünf Worten und begrüßt Dominici als Gast auf der Bühne. Der hatte in den zwischenzeitlichen 15 Jahren wenig, eher nichts im härteren musikalischen Bereich gemacht, und man hört seiner Stimme auch das etwas fortgeschrittene Alter an – die Höhen im Finale von „The Killing Hand“ hätte wohl auch er ausgelassen, wenn er schon zu diesem Song auf die Bühne gekommen wäre. Aber er macht immer noch einen guten Job und hat sich offenkundig so wohlgefühlt, dass er sich noch einmal aufraffte und sein O3-Projekt an den Start brachte, mit dem er eine interessante Albumtrilogie veröffentlichte, bevor er es wieder ruhiger angehen ließ und 2023 im Alter von 72 Jahren verstarb. Dass er in der Liveaufnahme einen Deut zu weit in den Hintergrund gemischt worden ist, stört den positiven Eindruck nicht, und dass auch er manchmal einen Deut von der Ideallinie abweicht, zeigt, dass auch bei ihm ehrlicherweise nicht nachgebessert worden ist.
Nachdem Dominici „To Live Forever“ bis auf das Intro, in dem LaBrie gesungen hatte, im vokalen Alleingang bestritten hat, brandet im Publikum Jubel auf, als man anhand der ersten Töne erkennt, was jetzt noch für ein Song kommt: „Metropolis Part 1 (The Miracle And The Sleeper)“. Auch der stammt kompositorisch noch aus Dominici-Zeiten, war dann aber fürs Debütalbum gestrichen und erst auf Images And Words veröffentlicht worden, nun mit LaBrie am Gesang. Am 6.3. geben die beiden Vokalisten nun ein Duett zum besten, wechseln sich in diversen Strophenzeilen ab, und Dominici liefert zudem einige Backings, die bei anderen Aufführungen dieser Nummer von diversen anderen Bandmitgliedern beigesteuert werden. Selbige andere Bandmitglieder bauen auch noch den einen oder anderen zusätzlichen Instrumentalpart ein, so dass auch hier im Vergleich zur Studiofassung etliche Zusatzminuten zusammenkommen – und außerdem gibt es mit Derek Sherinian, der in den Neunzigern für etliche Alben an den Dream-Theater-Tasten stand, noch einen weiteren Gast zu verzeichnen, auch wenn es schwerfällt, wenn nicht gar unmöglich ist, anhand der reinen Audiospur nachzuvollziehen, was genau er hier spielt und was Rudess.
Besitzer einer der Originalfassungen können hier wieder einmal Vorteile genießen: Nicht nur bekommen sie deutlich mehr Informationen zu den Hintergründen der Aufnahme selbst (der Re-Release nennt beispielsweise nicht mal Aufnahmedatum und –ort), sie haben, wenn sie die CD/DVD-Variante besitzen, auch die Möglichkeit, die genannte Frage nach dem Umfang der Beteiligung Sherinians anhand des eigenen optischen Eindrucks zu beantworten. Auch ob Sherinian am Setting von Rudess spielt oder eigene Instrumente mitgebracht hat, läßt sich anhand der fünf Livebilder im Booklet des Re-Releases nicht entscheiden, zumal dort weder Dominici noch Sherinian abgebildet sind, deren Mitwirkung aber wenigstens in der Besetzungsliste erwähnt wird, so dass man diese Information nicht auch noch aus LaBries Ansagen heraushören muß, sondern nur noch festzuhalten hat, dass die beiden in den acht Albumsongs offenkundig noch nicht mitwirken (diese Information geht aus der Besetzungsliste wiederum nicht hervor). „DT History tonight“, bemerkt einer der Musiker beim Abschlußjubel, und diesem Satz ist nichts hinzuzufügen. Zwar bleibt naturgemäß das Originalalbum unerreicht, aber für die Möglichkeit, diesen historischen Moment wenigstens konserviert mitzuerleben, sollte jeder Freund des frühen Dream-Theater-Schaffens dankbar sein – und der Tod von Charlie Dominici bildet einen zusätzlichen, wenn auch nicht willkommenen Anlaß, sowohl das Studioalbum als auch diese Liveaufnahme (wieder) zu hören.
Roland Ludwig
Trackliste
1 | A Fortune In Lies | 5:23 |
2 | Status Seeker | 4:38 |
3 | Ytse Jam | 6:10 |
4 | The Killing Hand | 12:30 |
5 | Light Fuse And Get Away | 8:29 |
6 | Afterlife | 5:45 |
7 | The Ones Who Help To Set The Sun | 7:53 |
8 | Only A Matter Of Time | 7:32 |
9 | To Live Forever | 4:54 |
10 | Metropolis (Part 1: The Miracle And The Sleeper) | 14:20 |
Besetzung
John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Portnoy (Dr)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |