Reviews
Chaos & Colour
Info
Musikrichtung:
Progressiver Hard Rock
VÖ: 27.01.2023 (Silver Lining) Gesamtspielzeit: 59:25 Internet: http://www.uriah-heep.com |
21 Jahre lang hatten Uriah Heep nicht einen einzigen Besetzungswechsel zu verzeichnen als Dummer Lee Kerslake 2007 wegen Rückenproblemen aussteigen musste. Russell Gilbrook übernahm und die Band titelte 2008 trotzig – und völlig passend - Wake the Sleeper. Seitdem hat man den Eindruck die fünf älteren Herren (3 bereits im Rentenalter; der jüngste immerhin 54) hätten Frischzellen genommen. Mit dem bislang letzten Album Living the Dream waren die Briten zehn Jahre später so erfolgreich wie 44 Jahre lang nicht mehr. Damit ist die Latte für das sechsundzwanzigste Studioalbum der Band auf maximale Höhe gelegt.
„Someone save me tonight“ heißt es dazu passend im Opener, der mit immenser Power und Spielfreude sofort deutlich macht, wer hier der Retter sein wird. Die Band bringt alles mit, um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Obwohl: Nach "Ziehen" klingt hier gar nichts! Hier wird gesprungen und mit Verve die Tür eingetreten. Fantastische Soli mit den Tasten und den Saiten; insbesondere ein völlig entfesselter Mick Box, dem man in einem knappen halben Jahr zum 76sten gratulieren kann.
Auf Chaos & Colour zeigen sich Heep so progressiv wie lange nicht mehr, was sich auch in gleich drei Stücken zeigt, die die 7-Minuten-Marke durchbrechen. Einer von ihnen ist musikalisch (nicht vom Text her) allerdings der größte Schwachpunkt des Albums. „One Nation, one Sun“ wird sehr sanft mit nur vom Piano begleiteten Gesang eröffnet und bleibt über die gesamte Spielzeit sehr ruhig, hat aber weder die emotionale noch die kompositorische Substanz um über die siebeneinhalb Minuten zu tragen, die dadurch dann doch sehr lang werden. Haken wir auch gleich „Fly like an Eagle“ ab, das (zumindest auf diesem Album) eher als Filler durchgeht. Alles andere sind Gewächse aus Top-Lagen.
Das beginnt mit dem upliftenden melodischen Hard Rocker „Silver Sunlight“. „Hail the Sunrise“, anscheinend eine Reflektion über die Erbauer von Stonehenge oder einer ähnlichen Anlage, toppt das mit seinem hymnischen Refrain. Der melodische Progger „Age of Changes“ hätte gut auf Sweet Freedom gepasst und begeistert mit einer fantastischen Orgel.
Es folgt der zweite von fünf Megagipfeln (<1,5,8,10,11>) in diesem Hochgebirge. „Hurricane” ist (Nomen est omen!) ein Wirbelsturm voller Solo-Parts und wurde zu Recht als zweite Video-Auskopplung ausgewählt.
„You‘ll never be alone” ist vielleicht der stärkste Titel das Albums. Der Achtminüter hat von überragender Power bis hin zu ganz sanften Parts alles, was ein Prong-Longtrack braucht. Insbesondere bei den Soloparts im Zentrum des Stückes klingt sehr viel „old Heep“ mit. Dazu passt auch der Fantasy-Text, bei dem man nicht ganz genau weiß, wieviel Horror sich hinter der Fassade befindet. Es könnte sein, dass der Titel auf lange Sicht gesehen, in einem Atemzug mit „The Magician’s Birthday“ genannt wird. In „Freedom to be free“, dem längsten Stück des Albums, könnte man so etwas wie das moderne Gegenstück dazu sehen. Nach einem Wahnsinns-Instrumental-Teil in der Mitte verfällt das Stück in fast völlige Stille und hat außerdem noch eine gigantisches Bass-Solo von Dave Rimer, dem jüngsten (54) und neusten Badmitglied (seit 2013).
Am Ende steht noch einmal ein echtes Ausrufezeichen. Mit „Save me tonight” und „Closer to your Dreams” rahmen die beiden kürzesten Stücke das Album. Und wer bei dem letzten Titel einen verträumten Abschluss erwartet, muss umdenken. Hier erinnern Uriah Heep noch einmal daran, dass der Rock’n’Roll der Wurzelgrund aller Rockmusik ist. Das Stück wird bereits als legitimer Nachfolger des Band-Klassikers „Easy Livin“ gehandelt.
In den Texten spiegeln sich die Probleme unserer Zeit. Es wird nichts Konkretes angesprochen. Am deutlichsten ist da noch „Hurricane“, das die gewachsene Zahl gewaltiger Naturkatastrophen in den Blick nimmt. Aber immer wieder wird von Orientierungslosigkeit, Konfusion und Gefahren gesprochen. Sehr deutlich spricht „Silver Sunlight“ davon, vor wie viel Türen man steht, die jede ein Versprechen abgeben, ohne zu wissen, welche man wählen soll.
Das Album spricht aber nicht nur vom „Chaos“ sondern auch von „Colour“. Auch wenn Heep nie Hippies im eigentlichen Sinn gewesen sind, ist in ihnen von „Come away Melinda“ über „Lady in Black“, „Pilgrim“ und darüber hinaus immer schon eine utopische, spirituelle, manchmal fast esoterische Hoffnung für diese Welt lebendig gewesen. Chaos & Colour ist geradezu in diese zwei Hälften aufgeteilt. Die ersten fünf Stücke reagieren auf das Chaos in dieser zum Teil aus den Fugen geratenen Welt. „Age of Changes“ wird dabei mit dem melancholischen Blick auf eine lang zurückliegende zerbrochene Beziehung sehr persönlich.
Dann kommt mit „One Nation, one Sun“ das totale Gegenbild einer Welt voller Harmonie und Frieden, deren Wunden geheilt sind. Man erinnert sich an alte Jesaja-Texte, in denen der Prophet von einer Zeit spricht, in der alle Tränen abgewischt und Lämmer und Löwen friedlich nebeneinander leben.
Nach dieser Utopie folgt die „Colour“-Seite der CD, auf der wir uns wieder in dieser unserer Welt befinden, aber dieses Mal wird in die schwierige Welt die Hoffnung hineingesprochen. „Golden Light“ deutet dabei durchaus die Hilfe höherer Mächte an. „Freedom to be free“ feiert im Chorus „So on you go victorious”. Und „Closer to you dream” schickt den Hörer in den Kampf sein Ding zu machen. Es kann aber dauern. „Some get famous overnight others take much longer“. Das Album schliesst mit der Frage „Are you strong enough to take the Ride”.
Einige Kritiker haben schon gesagt, Chaos & Colour sei das stärkste Heep-Album seit der Phase 1971-73. Ich möchte widersprechen. Allerdings nicht, weil ich das neue Album für schlechter halte, sondern weil ich Return to Fantasy (1975) und Firefly (1977) offenbar mehr schätze als besagte Kritiker. Außerdem brauche ich noch etwas Zeit, um zu entscheiden, ob Chaos & Colour tatsächlich das beste Album seit dem Wiedererwachen 2008 ist.
Trackliste
1 | Save me tonight | 3:31 |
2 | Silver Sunlight | 4:31 |
3 | Hail the Sunrise | 4:24 |
4 | Age of Changes | 5:50 |
5 | Hurricane | 4:50 |
6 | One Nation, one Sun | 7:35 |
7 | Golden Light | 5:09 |
8 | You'll never be alone | 7:58 |
9 | Fly like an Eagle | 3:48 |
10 | Freedom to be free | 8:12 |
11 | Closer to your Dreams | 3:38 |
Besetzung
Phil Lanzon (Keys, Voc)
Bernie Shaw (Lead Voc)
Dave Rimer (B, Voc)
Russell Gilbrook (Dr, Perc)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |