Reviews
2020
Info
Musikrichtung:
Melodic Rock
VÖ: 02.10.2020 (Island) Gesamtspielzeit: 47:24 Internet: http://www.bonjovi.com |
Album Nr. 15 von Bon Jovi (wenn man den von Michael auf diesen Seiten nicht eben positiv bewerteten Zwischendurch-Release Burning Bridges mit neuen und neu eingespielten Songs einrechnet) ist seit Bounce das erste, das dem Rezensenten in Komplettform zu Ohren kommt – über die musikalische Entwicklung der dazwischenliegenden zwei Dekaden und die Einordnung von 2020 kann an dieser Stelle ergo keine Auskunft gegeben werden. Konzentrieren wir uns also lieber auf die Betrachtung der zehn Songs der regulären Edition bzw. der ihnen innewohnenden strukturellen Komponenten. Man geht auch nach Jahrzehnten natürlich mit einer gewissen Erwartungshaltung an eine Bon-Jovi-Scheibe heran, und wenn diese nicht gerade mit einer teils mehr als nur latenten Grundhärte, die die klassischen Alben, also die Nummern 3 bis 5, durchzogen hatte, gekoppelt ist, kann man die grundsätzlichen Stilelemente auch auf 2020 noch wiederfinden, wenngleich man zugleich mit diversen Veränderungen klarkommen muß. Die Stimmfärbung des Chefs ist auch jetzt noch klar wiedererkennbar, aber er singt deutlich tiefer, was auch Auswirkungen auf die darumgebaute Musik hat, der fast durchgehend ein latenter melancholischer Touch innewohnt, ohne dass man hier ein Abdriften in grungige Weinerlichkeit befürchten muß, wie es viele Stilkollegen 30 Jahre zuvor praktizierten, während Bon Jovi ein Jahr nach Nevermind stolz ihr bestes Album Keep The Faith herausbrachten, auf dem sie ihr Stilspektrum auch behutsam erweiterten, aber eben ihrem Leisten treu blieben und erst nach dem etwas zu relaxten These Days schrittweise etwas die Orientierung verloren. Dass das Riff von „Beautiful Drug“ und die Gesamtanlage des Songs ohne die fluffigen „Uhuhuh“-Backings und das kernige Solo tatsächlich in die Indierockwelt der Neunziger gepaßt hätten, stellt ebensowenig einen Widerspruch zu eben geäußerter These dar wie der Fakt, dass „American Reckoning“ dann doch eine dieser melancholischen Balladen geworden ist, von denen man sich nicht sicher ist, ob man sie unbedingt von Bon Jovi hören will. „Do What You Can“ kommt vielleicht am nächsten an die alten Alben heran, erinnert mit seinem leichten Americana-Touch aber auch an Jon Bon Jovis Solowerk Blaze Of Glory. Aber eine Art Solowerk ist ja auch 2020 sowieso geworden, seit dem Sänger mit Richie Sambora vor etlichen Jahren nicht nur der Gitarrist, sondern auch der songwriterische Sidekick alter Zeiten abhanden gekommen ist und mit Phil X zwar ein neuer Gitarrist in die Band kam, der aber zumindest in den hier vertretenen zehn neuen Songs keinen einzigen Songwritingcredit verbucht – acht der zehn Songs sind Alleingänge des Chefs, in „Beautiful Drug“ und „Limitless“ hat er zusammen mit Billy Falcon und John Shanks gearbeitet, welchletzterer auch als Produzent fungierte und mittlerweile zudem als weiterer Gitarrist zur Band gehört, die zudem mit der Hinzunahme von Everett Bradley als zusätzlicher Percussionist neben Stamm-Drummer Tico Torres zum Septett angewachsen ist, wobei Bradley zumindest in den Studiofassungen keinen prägenden Einfluß ausübt. Derjenige von Shanks und Falcon wiederum muß mit gewisser Skepsis betrachtet werden, denn zu „Beautiful Drug“ wurde schon geschrieben, und die zweite Co-Komposition ist der Opener „Limitless“, ein totaler Kulturschock: schwachbrüstiger und einfallsloser Poprock im Stil Tausender austauschbarer glattgebügelter Combos, die alle die neuen Nickelback werden wollen, noch dazu mit einer derart vorhersehbaren Harmoniefolge, dass dem Rezensenten vor Schreck gar nicht einfällt, wo es diese schon mal zu hören gegeben hat. Merke: Bon Jovi sind das Vorbild, nicht die Kopisten – hier werden Henne und Ei peinlich vertauscht.
Hat man sich von diesem Schock erholt, rettet „Do What You Can“ aber zumindest ansatzweise den Tag und hievt 2020 auf ein wenigstens durchschnittliches Niveau, aus dem hier und da ein Geniestreich hervorblitzt – leider immer nur punktuell und nicht mal über einen ganzen Song hinweg. Der Refrain von „Let It Rain“ macht durchaus Hörspaß, auch die hintergründige alte Orgel, die David Bryan da drunterlegt, zaubert ein Lächeln ins Gesicht, sobald man sie entdeckt hat. Und dann wäre da noch „Story Of Love“, eine eher unauffällige Halbballade, bis unverhofft, als schon alles gesagt scheint, ein großes zweiminütiges Solo um die Ecke gebogen kommt, das zwar auch nicht an eine Großtat wie seinen Bruder in „Dry County“ herankommt, aber ihm wenigstens in gewissem Abstand zu folgen in der Lage ist und somit im Kontext von 2020 das einsame Glanzlicht darstellt, gefolgt vom sehnsuchtsvoll suchenden Gitarrenton des Intros von „Blood In The Water“, der als Interludium nochmal wiederkehrt, während der Song selbst zu einer entspannten Midtempohymne wird, die zwar an einer viel zu unauffälligen Strophe krankt, aber in der Song-Gesamtbetrachtung doch den stärksten der zehn Beiträge liefert, zumal hier auch im Hauptsolo noch etwas Bombast aufgetürmt wird. „Brothers In Arms“ recycelt im Refrain zu auffällig das eigene historische Schaffen in zweitklassiger Manier und vergißt zudem, nach der zweiten Strophe und dem wiederkehrenden Gitarreninterludium auch noch ein vernünftiges Solo einzubauen, wozu besagtes Interludium durchaus kreativen Stoff hergegeben hätte, und wer vom längsten Song, dem Closer „Unbroken“, noch einmal ein großes Epos oder eine große Hymne erwartet, wird mit einem soliden, aber nicht weltbewegenden Werk enttäuscht, das ansatzweise Spannung aufbaut, aber diese weder weiterentwickelt noch entlädt.
Zwar ist 2020 natürlich kompetent eingespielt, aber richtige Highlights muß man in der reichlichen Dreiviertelstunde mit der Lupe suchen, und die Leadstimme ist mittlerweile offensichtlich nicht mehr groß genug, um durchschnittliche Songs aus dem Feuer zu reißen. Als Werk einer Newcomerband würde man das Album wahrscheinlich ein wenig höher bewerten, aber hier greift nicht mal das Prädikat „gereiftes Alterswerk“, und Hits, denen man zutrauen würde, sich im Gedächtnis festzukrallen wie einst „Living On A Prayer“, kann oder will der Chef möglicherweise nicht mehr schreiben, obwohl sie sicherlich zur Aufwertung hätten beitragen können. Zwar greift 2020 textlich die schwierige politische Lage in den USA auf, so dass ein fröhliches Partyalbum eher weniger zu diesem Sujet gepaßt hätte, aber auch da hätten sich Mittel und Wege finden lassen können, das Material mitreißender zu gestalten. Dafür, dass sie selbst schon Großtaten vollbracht haben, an denen sie automatisch immer gemessen werden, können Bon Jovi natürlich nichts, aber auch dieser Aspekt macht 2020 per se nicht begeisternder. Passenderweise bildet das Album auch optisch eine fast völlig graue Maus, kann die einzig hinzugefügte Farbe Ocker nichts herausreißen, so dass der Chef himself, der auf dem Cover vor dem Gebäude des Supreme Court des US-Bundesstaates New York steht (danke an Kollege Sven und die anderen Spürnasen in der Redaktion, die diesen sonst in keiner Rezension erwähnten, aber zum Sujet passenden Umstand herausgefunden haben!), während sich in seiner Sonnenbrille zwei US-Flaggen spiegeln, unfreiwillig mit „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ das Motto für das Album hergibt, wenngleich zum Zeitpunkt des Releases am 2. Oktober 2020 noch niemand im Detail ahnen konnte, vor welcher Zerreißprobe die US-amerikanische Gesellschaft im Zuge der Präsidentschaftswahlen kurze Zeit später stehen würde. Interessanterweise enthält das Cover zumindest bei der dem Rezensenten vorliegenden Pressung weder den Albumtitel noch den Bandnamen – beide finden sich nur auf einem Sticker, der wiederum auf der Einschweißfolie klebt. Offensichtlich existieren aber auch andere Varianten.
Es gibt da aber noch ein anderes Problem, mit dem der Rezensent konfrontiert wird. Nach einigen Durchläufen beginnen sich nämlich doch noch ein paar Hooklines im Gehör festzukrallen und scheinen sich auch im Langzeitgedächtnis verankern zu wollen – längst nicht so viele wie auf den Klassikeralben und auch längst nicht so intensiv, aber doch feststellbar. Wo diese Entwicklung einmal hinführt, bleibt abzuwarten – aber ausgerechnet der vorhersehbare und eigentlich völlig langweilige Refrain von „Limitless“ ist einer dieser Kandidaten, und das Hirn ist geneigt, ihn nicht auf dem Müllhaufen der Musikgeschichte zu entsorgen und auch nicht als abschreckendes Beispiel zu konservieren, trotz der oben gewählten harten Worte. Wie dieser Umstand zu bewerten ist, wird sich erst irgendwann in der Zukunft zeigen, beschert dem Album letztlich aber doch einen Punkt mehr.
Trotzdem bleibt ein unentschlossener Blick auf das Werk und die Feststellung, dass sich Jon Bon Jovi und Campino immer mehr annähern – optisch, aber auch ein wenig musikalisch. Ob man das gut findet, muß jeder für sich entscheiden.
Roland Ludwig
Trackliste
1 | Limitless | 3:42 |
2 | Do What You Can | 4:20 |
3 | American Reckoning | 4:41 |
4 | Beautiful Drug | 3:48 |
5 | Story Of Love | 5:50 |
6 | Let It Rain | 4:39 |
7 | Lower The Flag | 4:55 |
8 | Blood In The Water | 5:58 |
9 | Brothers In Arms | 4:13 |
10 | Unbroken | 6:07 |
Besetzung
Phil X (Git)
John Shanks (Git, Keys)
David Bryan (Keys)
Hugh McDonald (B)
Tico Torres (Dr)
Everett Bradley (Perc)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |