Dream Theater
A View From The Top Of The World
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Manch einer mag besorgt dreingeblickt haben, als sich die Wege von Mike Portnoy und dem Rest der Bandmitglieder von Dream Theater trennten – ein reichliches Jahrzehnt später aber war klar geworden, dass sozusagen eine Win-Win-Situation eingetreten war: Portnoy litt anhand Dutzender Bands und Projekte, etwa Sons Of Apollo, definitiv nicht an Unterbeschäftigung, und Dream Theater hatten mit dem neuen Mike, also Mangini, an den Drums alsbald auch schon etliche Alben auf dem Konto.
Deren jüngstes hört auf den Namen A View From The Top Of The World, und wer dahinter Größenwahn vermutet, liegt vermutlich zum Teil richtig und zum Teil auch wieder nicht. Wenn sich eine Band zurücklehnen und auf die markante Prägung eines ganzen Zweiges innerhalb der Prog-Metal-Welt zurückblicken darf, dann wohl diese hier – und When Dream And Day Unite, Images And Words, Awake und A Change Of Seasons haben auch beim hier tippenden Rezensenten im letzten Jahrtausend markante Begeisterungsstürme hervorgerufen, wenngleich die Band dann irgendwann ins zweite Glied der Aufmerksamkeit geraten ist, aber immer wieder für ein interessantes neues Album gut war. Der Titel ist aber auch mit einer gewissen Selbstironie zu verstehen, was auch im Artwork von Hugh Syme zum Ausdruck kommt, wo sich zahlreiche Personen finden, die von einem hohen Standpunkt aus nach unten blicken. Das Cover ist übrigens nur zu einem Teil montiert: Den zwischen zwei Felswänden klemmenden Block gibt es in Norwegen wirklich. Der Kjeragholten hat ein Volumen von fünf Kubikmetern, und unter ihm sind 984 Meter Luft – also ein prima Platz, um sich bei einem Blick nach unten vorzukommen, als stünde man wirklich am Gipfel der ganzen Welt, obwohl der Bergsteiger natürlich weiß, dass da noch deutlich mehr geht, was den maximal erlebbaren Höhenunterschied betrifft, schon auf der Erde und erst recht, wenn man „Welt“ auch über die Grenzen unseres Planeten hinaus begreift. Schließlich stehen da auf dem Mars ein paar Vulkane herum, gegen die sich der Everest wie ein kleiner Hügel ausmachen würde.
Hört man die 70 Minuten des Albums in der gegebenen Reihenfolge durch, wird man zunächst mit „The Alien“ konfrontiert – dass dieser Song auch noch einen speziellen Kontext zum Albumtitel entwickeln würde, konnte die Band zum Veröffentlichungszeitpunkt natürlich noch nicht ahnen: Im dritten Anlauf gewannen Dream Theater damit anno 2022 ihren ersten Grammy, schauten sich also sozusagen die Kategorie „Best Metal Performance 2022“ von ganz oben an. Dass es fast jeder Song der Ausnahmeband verdient hätte, diese Auszeichnung zu erhalten, sei mal ausgeblendet – aber „The Alien“ stellt in der Tat eine Art urtypischen melodischen Progmetalsong dar: Eine wilde, aber strukturierte mehrminütige instrumentale Abfahrt mündet in merkfähige Strophenstrukturen und einen ebenso merkfähigen Refrain, in dem James LaBrie erstmals in seine typischen Höhenlagen geht, nachdem er vorher ein wenig weiter unten agiert hat und dort kurioserweise von der Stimmfärbung her ein wenig an Jeff Scott Soto erinnert, der bekanntlich bei den erwähnten Sons Of Apollo hinterm Mikrofon steht. Dazu kommt dann ein Hauptsolo mit einer Abwandlung des klassischen Exzelsior-Prinzips unter Dominanz von John Petrucci, aber unter maßgeblicher Mitwirkung von Jordan Rudess, und Mangini bastelt noch ein paar Anflüge von ethnischer Percussion ein. Flugs ist man bei 9:32 Minuten angelangt und überzeugt, dass die Herrschaften auch diesmal hochwertige Arbeit abgeliefert haben werden, was sich beim Durchhören der noch folgenden Stunde Musik dann auch bewahrheitet. Dabei fällt auf, dass es Dream Theater verstehen, mit Zweier- oder Viererstrukturen bei Wiederholungen ihre Songs gleichermaßen nachvollziehbar und individuell zu machen, gleichzeitig aber dem Hörer die eine oder andere Überraschung zu bescheren, seien es die erwähnten ethnischen Drums in „The Alien“, die Mangini im folgenden „Answering The Call“ gleich nochmal einsetzt, oder die historischen Honky-Tonk-Keyboards, die Rudess im Solo von „Sleeping Giant“ plötzlich um die Ecke biegen läßt. Und was die Kerls arrangementseitig draufhaben, hört man sich am besten in „Invisible Monster“ kurz vor Minute 6 an, wobei sie sich sogar den Luxus leisten können, die große harmonische Modulation zum nahen Songende zu führen, anstatt noch einen neuen Songpart daraus zu stricken. Und wie man komplexe Rhythmen zu einem Musterbeispiel von einem eingängigen Refrain verquickt, dafür legt der bereits erwähnte Zehnminüter „Sleeping Giant“ bestens Zeugnis ab.
Aber da ist noch ein anderer Faktor: „Answering The Call“ und besonders „Transcending Time“ muten wie modernisierte Fassungen von Songs an, die schon auf Images And Words standen. Besonders letztgenannter ist mit seinem latenten Melodic-Rock-Touch und seiner Kürze von 6:25 Minuten (damit als erster der sieben durchs Ziel gehend) ein Musterbeispiel für diese These, wenngleich Mangini über weite Strecken einiges an Tempo macht. Aber schon das Intro wirkt, als hätten die jungen Dream Theater noch eine (richtig gute!) Idee für später aufgehoben, das Klavierbreak hat auch Größe, und manchmal denkt man sogar an Savatage bzw. deren Stilübersetzung in Trans-Siberian Orchestra. In dieser Gedankenwelt wäre dann also „The Alien“ das Pendant zu „Pull Me Under“, was auch irgendwie zutrifft. Das gitarrenseitig ganz tief in den Eingeweiden wühlende Intro von „Awaken The Master“ wiederum läßt Reminiszenzen an, nomen est omen, das Awake-Album zu, mit dem Dream Theater damals knietief im Neunziger-Metal gegraben und seine Elemente in ihren Sound übersetzt hatten. Wenn LaBrie zu singen beginnt, höre man mal genau darauf, wie sich Petrucci und Mangini anstrengen müssen, da irgendwie eine rhythmisch nachvollziehbare Linie drunterzukriegen – und irgendwann klappt die Kinnlade runter, wie sie das zum wiederholten Male geschafft haben.
Die letzten 20 Minuten der Platte gehören dem Titeltrack, der nochmal Essenzen von Images And Words aufnimmt (höre die Gitarrenmelodie ab 2:45!), diese aber in den heutigen Bandsound übersetzt und beispielsweise den ersten zwei Minuten der instrumentalen Einleitung einen latenten cineastischen Touch verleiht. Wenn man hier etwas bemängeln will, dann vielleicht, dass LaBrie den Refrain nicht mit der strahlenden Inbrunst und Intensität singt, die man bei einem Blick vom Gipfel der Welt erwarten würde – andererseits ist der Weg bis dorthin ja enorm anstrengend, und für ein „Problem“ dieser Art würden 99,9% aller Stilkollegen auf Knien dankbar sein, wenn’s eben das einzige ist. Klar, „progressiv“ im Sinne von „fortschrittlich“ sind Dream Theater seit Jahrzehnten kaum noch, sieht man von Nuancen wie der neuen Sorte achtsaitiger Gitarren ab, die Petrucci (der optisch immer mehr an Rasputin erinnert) hier erstmals zum Einsatz bringt. Ansonsten haben sich die Ostküstler auf ihrem hohen Berg gemütlich eingerichtet, und mancher mag ihnen die gedanklichen Rückgriffe auf ihr Frühwerk übelnehmen – aber warum sollten Dream Theater ihre stilistische Herkunft verleugnen? Solange sie immer noch starke Songs schreiben, kann dem Hörer herzlich egal sein, was sie in den letzten drei Dekaden schon mal gemacht haben. Und geringfügige Steigerungsmöglichkeiten lassen sie sich immer noch offen: So grenzgenial der ruhige Übergang vom ersten zum zweiten Teil des Titeltracks auch komponiert ist, man wird das Gefühl nicht los, dass er noch ein Fünkchen Genialität mehr besäße, wäre er von einem echten Cellisten eingespielt worden. (Zumindest erwähnt das Booklet nicht, dass es ein solcher getan hätte – also wird’s wohl eine Keyboardsimulation von Rudess sein.) Dass man im Übergang vom zweiten zum dritten Teil hingegen mal kurz an Nightwish denkt, ist als Kompliment für beide Bands zu verstehen. Ach ja, und dann gibt es da bei Minute 17 feelingseitig noch ein kleines Selbstzitat, diesmal in Richtung „A Change Of Seasons“ – solche easter eggs machen dem Bandkenner natürlich ganz besonders Hörspaß.
Lange Rede, kurzer Sinn: A View From The Top Of The World liefert keine Argumente, Dream Theater die Gefolgschaft zu kündigen – ganz im Gegenteil. Und vielleicht verhilft der Grammy der Band ja nochmal zu einem weiteren Popularitätsschub. Verdient hätten es LaBrie, Petrucci, Rudess, Myung (der auch mal genannt werden muß) und Mangini allemal – und natürlich auch Portnoy, der kurz vor Veröffentlichung dieser Rezension wieder in den Schoß seiner alten Kumpels zurückgekehrt ist.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | The Alien | 9:32 |
2 | Answering The Call | 7:35 |
3 | Invisible Monster | 6:31 |
4 | Sleeping Giant | 10:05 |
5 | Transcending Time | 6:25 |
6 | Awaken The Master | 9:47 |
7 | A View From The Top Of The World | 20:24 |
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Besetzung |
James LaBrie (Voc)
John Petrucci (Git)
Jordan Rudess (Keys)
John Myung (B)
Mike Mangini (Dr)
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