Christian Muthspiel ORJAZZTRA VIENNA
Homecoming
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Aktuell stellte ich diesen hervorragenden Überblick, Diary 1989-2022, Selected Recordings , über das Schaffen des österreichischen Jazzmusikers Christian Muthspiel vor. Dort konnte man bereits durch den dort enthaltenen Titelsong des parallel veröffentlichten neuen Albums, Homecoming, erahnen, was hier zu erwarten sein wird. Zitat: CD 2 enthält den neuesten Song der Kollektion, "Homecoming", von der gleichnamigen parallel erschienenen Doppel-CD, die ich noch separat vorstellen werde. Aus meiner Sicht ist das ein sehr reifes und stimmungsvolles Arrangement, dass die Vorfreude auf diese aktuelle Veröffentlichung anheizt.
Ja, und nun ist es soweit: Zum 60. Geburtstag des Protagonisten wird dieses im März letzten Jahres live (ohne Publikum) an drei Tagen eingespielte Ereignis von Universal Music Austria nun veröffentlicht. Siebzehn Musiker sind beteiligt, Muthspiel selbst, der alle zwölf Stücke komponiert hat, trat nur als Dirigent in Erscheinung. Solch' große Besetzungen im Jazz sind eher selten geworden, die Zeiten von Count Basie, Duke Ellington und aller Big Bands der Sechziger oder Siebziger sind fast vergangen, nur wenige große Orchester konnten sich, auch angesichts der Kosten, wirklich halten, insofern ein guter weiterer Versuch, mit dem ORJAZZTRA VIENNA an der Tradition festzuhalten.
Allerdings, ich zitiere hier aus dem Booklet der Produktion, weicht die Besetzung des Orchesters auffällig von herkömmlichen Klang-Kombinationen ab. Da gibt es einen sechsköpfigen Holzbläsersatz mit Musikern*innen, die jeweils verschiedene Saxofone und Klarinetten spielen. Hinzu kommt ein ebenfalls sechsköpfiger Blechbläsersatz mit drei Trompeten und drei Posaunen. Sowie: eine doppelte Rhythmusgruppe mit zwei Schlagzeugern, einem E-Bass und einem Kontrabass. Und ein Klavier.
Insofern gibt es unter dem Hintergrund bekannter Big Band-Strukturen sicherlich Einiges an Neuem zu entdecken, eine Klangwelt, die sich vielleicht anders und/oder ungewöhnlich gestaltet. Höre ich den ersten Song, "The flight of the crane", so purzelt bei mir bereit die erste Assoziation, erinnern mich Passagen des Titels jedenfalls an das Werk von Carla Bley und Paul Haines - "Escalator Over The Hill", spüre ich doch eine sehr ähnlich klingende Dramatik.
Und so lassen sich im Laufe der weiteren Songs durchaus andere Parallelen herleiten, mitunter sprüht die alte Kraft von Big Bands wie von Duke Ellington, "Old wine in new skins", dann wieder springen humoristische Passagen beim "Jungle fugue" hervor, die mich dann sogleich an die verschiedenen Ausgaben des Sun Ra Arkestra's denken lassen, allerdings in etwas gemäßigter Form einerseits und andererseits auch anders durch die Verwendung rockiger Elemente.
Und diese tauchen dann ab und zu immer wieder auf, wenn zum Beispiel der E-Bass eine wichtige Rolle einnimmt, wie bei "She cries out loud", dieses Stück im Übrigen mit einem gewaltigen "Statement", passend zum Titel, Astrid Wiesinger mit einem furiosen Solo mit dem Altsaxofon - und auch wieder ein Hauch von Sun Ra! "Breathing underwater" schwebt mit den Stimmen aller Bläser leicht wankend dahin, dazu solieren Judith Schwarz und Marton Juhasz am Schlagzeug, dieser Song fließt relativ strukturlos.
CD Zwei startet funky, "Tribal dance", das deutet in Richtung Fusion zwischen Jazz und Rock, wie es sich in den Siebzigern entwickelte, ich verspüre hier einen Hauch von Gil Evans und seinen Arrangements aus jenen Tagen. Ein wenig traditioneller wirkt "Woman and man", auch hier spüre ich erneut ein wenig Gil Evans. Die "Open strings" featuren die beiden Bassistinnen, die dem Stück viel fliessenden Raum geben mit ihren Solo-Darbietungen.
Zum Schluss wirkt es ein wenig wehmütig und/oder auch nachdenklich. Wie ist der Titel "For the last of their kind" zu deuten? Lorenz Raab spielt ein sensibles und leicht traurig klingendes Solo auf dem Flügelhorn und dann zum Schluss der zweiten CD ein hoffentlich nicht "bedeutungsschwangerer" Titel - "Requiem for a blue planet", eine Totenmesse für den Planeten Erde? Wie führt Roland Spiegel dazu aus im Booklet: ein trauriger Gesang, den ein Baritonsaxofon und ein Bassklarinette in sinnlich-bildhafter Zartheit beginnen.
Insgesamt legen Christian Muthspiel und das ORJAZZTRA VIENNA ein Doppel-Album mit Musik vor, die überraschend klingt, anders und auch nicht anders, aber mit vielen Wendungen und vielschichtigen Arrangements, die abseits jeglichen Mainstreams stehen und die ganze Bandbreite kompositorischer Kunstfertigkeit offenbaren. Wer sich also bisher gern mit Big Band-Besetzungen jeglicher Art beschäftigt hat, sollte sich diese neue Veröffentlichung auf keinen Fall entgehen lassen, man könnte etwas verpassen! Zu erwähnen ist noch, dass die künstlerische Gestaltung von Cover und Booklet ebenfalls von Christian Muthspiel erfolgte, aus einer Serie aus 2012 - "Cosmic Constellations".
Wolfgang Giese
Trackliste |
CD 1:
1 The flight of the crane (5:35)
2 Homecoming (3:35)
3 Old wine in new skins (5:32)
4 Jungle Fugue (7:17)
5 She cries out loud (7:22)
6 Breathing underwater (5:13)
CD 2:
1 Tribal dance (6:24)
2 Woman and man (4:44)
3 Open strings (8:47)
4 Roots, trunk, crown (8:54)
5 For the last of their kind (5:48)
6 Requiem for a blue planet (9:54)
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Besetzung |
Lisa Hofmaninger (soprano saxophone, bass clarinet)
Fabian Rucker (alto & soprano saxophone, clarinet)
Astrid Wiesinger (alto & soprano saxophone)
Ilse Riedler (tenor & soprano saxophone, clarinet)
Robert Unterköfler (tenor & soprano saxophone)
Florian Bauer (baritone saxophone, bass clarinet)
Gerhard Ornig (trumpet, flugelhorn)
Lorenz Raab (trumpet, flugelhorn)
Dominik Fuss (trumpet, flugelhorn)
Daniel Holzleitner (trombone)
Alois Eberl (trombone)
Christina Lachberger (trombone)
Philipp Nykrin (piano)
Beate Wiesinger (electric bass)
Judith Ferstl (double bass)
Judith Schwarz (drums - right channel)
Marton Juhasz (drums - left channel)
Christian Muthspiel (all compositions, conductor)
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