New-York-Marathon mit millionenfachem Scoville-Grad: Das Wombo Orchestra bringt den Jenaer Kulturbahnhof zum Tanzen
Eine 13köpfige Band auf der nicht eben riesigen Bühne des Kulturbahnhofs, wo schon ein Quintett unter gewissen Bewegungseinschränkungen leidet? Man muß kein Physikstudent sein, um das Gesetz zu kennen, dass dort, wo sich ein Körper befindet, zur gleichen Zeit im gleichen Universum kein zweiter sein kann. Die Problemlage stellt sich allerdings letztlich als etwas leichter zu lösen heraus: Die aktuelle Tourbesetzung des Wombo Orchestra besteht nämlich „nur“ aus neun Musikern, von denen lediglich einer, nämlich der Drummer, naturgemäß eine größere und räumlich unvariable Fläche belegt. Angeordnet wird er interessanterweise übrigens im Zentrum der Bühne, und das in beiden möglichen Betrachtungsrichtungen. Hinter ihm (das nun wieder in nur einer der möglichen Betrachtungsrichtungen, nämlich aus frontaler Publikumssicht) stellen sich die vier Blechbläser, je zwei Trompeter und Posaunisten, auf, von denen allerdings immer mal einer nach vorn wandert, um ein Solo zu spielen. Die beiden Saxophonisten nehmen die linke und die rechte vordere Bühnenecke ein, der Bassist steht aus Publikumssicht rechts neben dem Drummer, und die Sängerin durchmißt den gesamten vorderen Teil der Bühne und stellt sich bei längeren Instrumentalpassagen oder ganzen Instrumentalnummern horizontal gegenüber des Bassisten auf, wo sie dann gelegentlich auch noch zu Perkussionsinstrumenten greift. So hat also alles seine fast streng barock-symmetrische Ordnung, und auch während der genannten Rochaden rennen sich die Musiker nicht gegenseitig über den Haufen, wobei allerdings grundsätzlich nicht so viel Bewegung auf der Bühne herrscht wie etwa bei einem klassischen NYHC-Konzert. Umso bewegungsaktiver zeigt sich hingegen das Publikum – und dazu ist das Wombo Orchestra ja eigentlich auch da. Die Punk-Brass-Stilumschreibung ist dabei nicht auf dem Mist des Rezensenten gewachsen, sondern einer offiziellen Ankündigung entnommen, genauso wie das Verorten des Stils „zwischen Afro-Punk, Rock, Swing, Latin, Soul und Rap“. Einen E-Gitarristen gibt es, wie oben bereits deutlich geworden sein sollte, zumindest im an diesem Abend spielenden Nonett nicht, aber Energie kommt trotzdem in reichlichen Mengen von der Bühne geflossen und wird vom Publikum dankbar aufgesogen. Eine Komponente fehlt allerdings in der Aufzählung noch, nämlich die psychedelische – Frédéric Corbière, üblicherweise das Altsax spielend, hat an seinem Mikrofonständer nämlich noch ein kleines Effektgerät, mit dem er blubbernde, tschiepende und sonstige schräge Geräusche erzeugen kann, wie sie die frühen Pink Floyd nicht authentischer hätten erzeugen können. Einziger kleiner Nachteil: An zwei, drei Stellen nehmen diese meist (aber nicht nur) als Intro eingesetzten Geräusche etwas zu sehr den Flow aus dem Set, was auch auf die gelegentlich eingestreuten Samples zutrifft. Aber das stört nicht allzusehr und wird im Hauptteil der Songs meist schnell wieder wettgemacht. Und dann gibt es als einen Haupttrumpf der Band ja auch noch Julie Roman, die enorm wandlungsfähige Sängerin, die den Herausforderungen der Songs problemlos gewachsen ist, wobei Drummer Manuel Lagorce gleichfalls recht große Vokalanteile übernimmt und die beiden Saxer gelegentlich Gangshouts oder weitere Backing Vocals einwerfen. Die genannten Herausforderungen sind gar nicht so gering: Das Wombo Orchestra setzt anstatt auf Eigenkompositionen nämlich auf Fremdmaterial, das es in seinen Stil umbastelt, sozusagen wombifiziert, und auch wenn man bei solch freien Bearbeitungen natürlich in gewisser Weise dafür sorgen kann, dass man selbst mit den Herausforderungen zurechtkommt (weil eben niemand eine „historisch korrekte“ Aufführung erwartet), so umfassen allein die Vorlagen doch schon ein breites Spektrum, übrigens auch sprachlich: Die französische Formation ist nämlich in Ungarn sehr beliebt, geht daher dort jeden Sommer auf Tour und hat auch ungarische Songs wombifiziert, von denen sich einer an Setposition 7 befindet. Der Titel ist Schall und Rauch, die Wirkung zumindest an diesem Abend aber nicht zu überschätzen: Hatte die Band bis dahin solide musiziert und schon das eine oder andere Tanzbein in Bewegung gebracht, so fehlte doch irgendwie noch der letzte Kick – und den gibt es genau mit diesem Stück, in dem das Blech von hinten haufenweise Paprika mit millionenfachem Scoville-Grad einwirft und das Gesamtresultat die Knackigkeit hat, die man sich anhand der Stilbeschreibung erhofft hatte, ohne interessanterweise das Tempo sehr weit nach oben zu schrauben. Mit den gängigen Balkanbeatbands hat das Wombo Orchestra stilistisch nur sehr bedingt etwas zu tun, auch wenn die intendierte Wirkung natürlich die gleiche ist und nach besagter ungarischer Nummer auch problemlos erreicht werden kann: Die Tanzbeinschwingaktivitäten im Publikum werden deutlich intensiver, und zugleich stabilisiert sich der Sound auf einem enorm lauten, aber ausgewogenen Niveau beeindruckender Klarheit, die man mit sechs Blasinstrumenten so erstmal hinbekommen muß. Zu den umjubelten Höhepunkten im Set geraten King Crimsons „21st Century Schizoid Man“ und die erste Zugabe „Bullet In The Head“ von, jawohl, Rage Against The Machine, das dem sowieso schon vielseitigen Bewegungsspektrum auch noch Hüpfaktivitäten hinzugesellt – die ungewöhnlichste Nummer ist hingegen als Intro erklungen: Wer hätte damit gerechnet, ausgerechnet mit Henry Purcells „Funeral Music for Queen Mary“ (außer dem Rezensenten wohl kaum einem weiteren Anwesenden alternativ aus „Ihr kommt zu spät“ der Münchener Freiheit bekannt – als diese Nummer 1989 veröffentlicht wurde, waren all die fleißig das Tanzbein schwingenden Studentinnen noch gar nicht geboren, obwohl die Oberbekleidung einer ausgesprochen attraktiven Blondine ihre Trägerin als Finisher des New-York-Marathons 1991 auszuweisen scheint) in einer puren Blechbläserfassung, dargeboten nicht auf, sondern noch vor der Bühne, begrüßt zu werden? An dieser prima ins schräge Bild der Combo passenden Wahl liegt die latente Schwerfälligkeit des ersten Setdrittels jedenfalls nicht, und nach der erwähnten ungarischen Nummer ist der Schalter ja dann sowieso umgelegt. Weil auch nach zwei Zugabesongs und knapp zwei Stunden Spielzeit das begeisterte Publikum keine Ruhe gibt, kommt noch eine finale Zugabe, zu der allerdings nur der Drummer und der Basser auf der Bühne bleiben – die anderen sieben Musiker streifen singend oder blasend kreuz und quer durchs Publikum, und so geht ein starker Gig nahtlos in die Aftershowparty über. Roland Ludwig |
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