Saxer in ungewohnter Umgebung: Carpe Noctem, Days Of Grace und smalltape im Kulturbahnhof Jena
Im Vorfeld der Carpe-Noctem-Bandgeburtstagskonzerte pflegt üblicherweise irgend etwas schiefzugehen. Das ist anno 2018 nicht anders – und doch stellt sich eine neuartige Problemlage dar: Aus logistischen Gründen kann nicht der gewohnte Termin, also einer der ersten Oktobertage (das erste Konzert der Formation datiert vom 3. Oktober 2009), gewählt werden, und statt dessen fällt die Wahl auf den 2. November. Der Zielgruppe ist freilich auch der recht, und so füllt wieder eine erkleckliche Menge an Personen den Kulturbahnhof. Die Wahl der Supportacts lief diesmal auf andere Weise ab als bisher gewohnt – Carpe Noctem hatten zwei Supportslots via Facebook ausgeschrieben, sich dann durch Dutzende von Bewerbungen gehört und sich schließlich für zwei Formationen entschieden. Als erste stehen smalltape aus Berlin (aus Berlin!) auf der Bühne und machen schon mal durch ihr Line-up neugierig. Fünf Leute musizieren da – ein Akustikgitarrist, der zudem auch noch ein Keyboard vor sich stehen hat, ein E-Gitarrist, eine Bassistin, ein Drummer und ein Saxophonist. Das ist freilich, wie sich herausstellt, lediglich die Besetzung im Opener „Kaventsmann“: Der Saxer spielt nicht in jedem Song mit und verfolgt die Nummern, bei denen er nicht aktiv ist, aus der ersten Publikumsreihe, so beispielsweise „The Sailor’s Tale“, bei dem die beiden Gitarristen zudem ihre Instrumente tauschen und alle beide auch noch zu singen beginnen, vokal unterstützt zusätzlich von der Bassistin, nachdem „Kaventsmann“ noch rein instrumental erklungen war. Die Ballade „The Shore“ wiederum läßt die Bassistin ans Keyboard wechseln, und schon in „Concrete Silence“ haben die Gitarristen ihre Instrumente wieder zurückgetauscht, wobei es bis zum Setende dann bei dieser Aufteilung der Sechssaiter bleibt. Dass eine solche Combo ungewöhnliche Musik macht, dürfte nicht verwundern, und so kommt es denn auch. Zwar generell irgendwo im Progrock anzusiedeln, kochen smalltape doch ihr eigenes Süppchen, wozu die vielschichtigen Vokalarrangements ebenso ihr Gewürz hinzufügen wie die Grundhärte, die immer mal in den Metal hinüberweist. Ungewöhnliche Rhythmen, interessante Soundeffekte und vor allem der Zauberkünstler, der sich als Leadsänger, Gitarrist und Keyboarder tarnt und die beiden letztgenannten Instrumente zu allem Überfluß gelegentlich auch noch gleichzeitig bedient (so etwas hat man seit Tommy von Sadist nur sehr selten gesehen), tragen gleichfalls ihr Scherflein zum hochklassigen Gesamtbild bei wie der Umstand, dass das Album The Ocean (wen wundert das nach der bisherigen Schilderung jetzt noch?) ein Konzeptalbum über maritime Themen darstellt, was logischerweise auch in den Effekten Spuren hinterläßt. Besagtes Album gibt es am Merchstand übrigens nicht nur als CD und LP, sondern auch als Kassette, was bei dem Bandnamen natürlich irgendwie Pflicht darstellt, aber dem detailverliebten Schaffen der Berliner die Krone aufsetzt. Schade nur, dass die genannte Ballade „The Shore“ bisweilen einen leicht orientierungslosen Eindruck hinterläßt und vom Titeltrack „The Ocean“ nur der zweite Teil erklingt – man hat irgendwie den Eindruck, als sei die Grundidee des Songs noch nicht ausgereizt. Aber als Supportact ist man natürlich gewissen Beschränkungen unterworfen, und weil die Songs logischerweise alle Überlänge haben und das Zeitbudget eng bemessen ist, können die Zugabeforderungen diverser Enthusiasten im Publikum nicht erfüllt werden. Ein recht klares, wenngleich in den metallischen Passagen (die üblicherweise in den hinteren Songteilen lauern – dass smalltape die Kunst des Spannungsaufbaus und der Dynamikentwicklung beherrschen, sollte nach den bisherigen Worten niemanden mehr verwundern) etwas ins Überlaute kippendes Soundgewand unterstützt das Publikum in der Wahrnehmung der Kunst der Berliner, und die Verwendung dieses Wortes ist jetzt nicht untertrieben. Setlist smalltape: Kaventsmann The Sailor’s Tale Concrete Silence The Shore Ocean Pt. 2 Picture Of A Dawn Days Of Grace sind schon seit Ewigkeiten am Start, und der Rezensent hat sie auch irgendwann irgendwo schon mal gesehen, kann sich aber nicht mehr an Details erinnern – es war jedenfalls nicht, wie er anfangs vermutet hatte, auf einer der von ihm besuchten Ausgaben des No-Silent-Backlands-Festivals und auch nicht beim 2016er Carpe-Noctem-Geburtstagsgig, denn da hatten Drown In Grace gespielt und nicht Days Of Grace. Eine Recherche in den fürs CrossOver verfaßten Gigreviews hilft und erbringt für Days Of Grace den 5.2.2011 als Support für Gorilla Monsoon in Altenburg. Die Merseburger sollen ganz früher eher im gothicangehauchten Rock beheimatet gewesen sein, und 2011 dominierte der Stoner Rock, wovon im aktuellen Material, das den Set dieses Abends dominiert, aber so gut wie nichts (Gothic Rock) oder eher wenig (Stoner Rock) übriggeblieben ist, wenn man das eine oder andere leicht doomig klingende Riff mal ausklammert. Statt dessen serviert das Quartett eine Art Groove Metal, der irgendwie anmutet, als hätten Sepultura nach Roots ihre melodische Ader entdeckt. Das klingt zumindest in der Livesituation nicht halb so seltsam, wie es schwarz auf weiß anmutet, und als weitere Eckpunkte seien Crosscut oder auch Tenside ins Gespräch gebracht, auch wenn Days Of Grace deutlich traditionsorientierter als zumindest erstgenannte musizieren, andererseits vereinzelte Passagen aber auch als optimistische Antwort auf Crowbar durchgehen würden, womit wir dann doch wieder zumindest in einer gewissen Stoner-Nähe landen. Das Problem besteht an diesem Abend freilich darin, dass erstens die Band ihren eigenen Soundmann dabeihat, der die Anlage viel zu weit aufreißt und damit die Durchhörbarkeit des melodischen Aspekts sowohl im Gesang als auch (und besonders) in den Gitarren unnötig erschwert, zweitens aber hauptsächlich eher geradlinig strukturiertes Material erklingt, in dem das Quartett nur andeutet, dass es durchaus auch mehr kann – das etwas ungewöhnlich strukturierte „Delay“ (oder so ähnlich – man versteht auch die Ansagen nicht immer wirklich gut) wird so zum Highlight unter den Eigenkompositionen, flankiert von einer eingängigen älteren Nummer. Ansonsten bieten die Merseburger eine solide Vorstellung und ernten mehr Applaus vom Publikum als smalltape, was freilich wegen der grundsätzlich viel einfacheren Zugänglichkeit ihrer Kompositionen auch nicht weiter verwundert. Allerdings bleiben die Zugabewünsche eher diffus, und da der Zeitplan sowieso schon weit überschritten ist, weil die vorgelagerte Umbaupause ziemlich lang gewesen war, können auch diese nicht erfüllt werden. Carpe Noctems aktuelles Album Schattensaiten stammt aus dem Jahr 2016, seither ist kein neues Material in Konservenform erschienen, und wer daher auf die Setlist des Reviews vom 2.10.2017 linst und diese mit der untenstehenden vergleicht, wird zwar einerseits gleich zwei Uraufführungen neuer Kompositionen entdecken, deren eine noch nicht mal einen Titel hat, den Arbeitstitel „Opener“ trägt und, nomen est omen, auch gleich als erstes gespielt wird, andererseits aber naturgemäß eine große Überschneidungsdichte konstatieren. Das ist einerseits normal und andererseits in diesem Kontext auch nicht schlimm, besitzt das Material doch hinreichend Klasse, um gern wiedergehört zu werden, zumal ja 13 Monate zwischen den beiden Gigs liegen. Aber es tritt ein weiterer Fakt hinzu: Nicht immer sind die Arrangements die gleichen, und das betrifft sowohl Werke, die das Stammquintett, also die drei alten Hasen an der Geige und den beiden Celli plus die 2017 neu hinzugestoßene Rhythmusgruppe, als solches spielt, als auch welche mit Gastmusikern, wobei der Unterschied durchaus auch im Fehlen ebensolcher bestehen kann. In diese Kategorie fällt das System-Of-A-Down-Cover „Toxicity“, für das Carpe Noctem üblicherweise einen Gastsänger einzuladen pflegen – diesmal war aber niemand Passendes aufzutreiben, und so delegiert der für die Ansagen zuständige Geiger Friedrich die Aufgabe des Gesanges kurzerhand ans Publikum, was auch prima funktioniert, da das Stück schon lange im Repertoire der Band ist, auch häufig live gespielt wird und sich beim Geburtstagsgig in der Heimatstadt naturgemäß eine große Anzahl alter Weggefährten im Auditorium befindet. Einer derselben kommt dann sogar für eine Nummer auf die Bühne, nämlich Ex-Drummer Daniel, was seinem Nachfolger Martin die Gelegenheit bietet, in „Gravely To Forget 2.1“ an den vorderen Bühnenrand zu gehen, das Mikrofon zu ergreifen und mit Gastsängerin Bine diese auch schon ewig im Repertoire befindliche, aber gelegentlich umarrangierte Nummer im Duett zu singen, wobei die eher sprechgesangsorientierten Passagen hier und da freilich nicht den allersichersten Eindruck hinterlassen, während die melodischen Sangesparts richtig gut klappen und der Nummer einen Touch gen Epica, Within Temptation & Co. verleihen. Den größten Geniestreich landen Carpe Noctem aber mit Flo Drachenberg, der „Untold Story“ mit seinem Saxophon veredelt. Man braucht einen Moment, um sich in die Mixtur einzuhören, vielleicht brauchen auch die Musiker ein wenig Anlaufzeit, um sich aufeinander einzugrooven (die Version mit Saxophon erlebt an diesem Abend ihre Uraufführung) – aber sobald sie sich gefunden haben und sich das Hörerohr darauf eingestellt hat, entsteht hier etwas ganz Großes, das man zudem wie den gesamten Gig dank des ausgezeichneten klaren und nicht überlauten, aber dennoch jede benötigte Menge Energie transportierenden Sounds vom hausinternen Mischpultmeister Thomas auch in jeder Nuance wahrnehmen kann. Ansonsten herrscht sozusagen business as usual, und das ist im Falle Carpe Noctems als Kompliment zu verstehen: Sie spielen erneut einen starken Gig, vergessen ihre Herkunft nicht, indem sie immer noch ihr erstes Signaturstück „BACH“ berücksichtigen, und werden vom Publikum angemessen gefeiert, so dass trotz später Stunde noch ein Zugabeblock Pflicht ist. Der fällt sogar deutlich länger aus als der von 2017, umfaßt nämlich nicht nur einen Song (und auch nicht das damals gespielte „Requiem“, das in den Hauptset gewandert ist) und beinhaltet nur einen dramaturgischen Wermutstropfen: Als dritte und letzte Zugabe ausgerechnet den schleppendsten Song des ganzen Sets, in diesem Falle die Dunkelballade „Fate“, zu spielen kann man sich als Funeral-Doom-Band erlauben, aber im vorliegenden Fall mutet die Wahl allermindestens seltsam an, und man hätte sich dort einen optimistischeren Rausschmeißer gewünscht, so dass das Publikum etwas verwirrt reagiert, als klar wird, dass ausgerechnet dieser schwerverdauliche Brocken das Finale des Gigs bilden soll. Aber da ist ja zumindest noch das Konservenoutro, und das bietet dann wieder bekannte und gut einzuordnende Kost, nämlich den zweiten Walzer aus Dmitri Schostakowitschs Jazzsuite Nr. 2, den auch wieder das eine oder andere Pärchen für entsprechende Tanzaktivitäten nutzt. In elf Monaten steht dann der Gig zum 10jährigen Bandjubiläum an, was Friedrich in einigen der Ansagen bereits thematisiert hat, u.a. mit dem augenzwinkernden Hinweis, die Band dürfe dann endlich bis Mitternacht aufbleiben. Zwar ist Mitternacht an diesem Abend längst vorüber, aber es hätte natürlich keiner der Anwesenden für gut befunden, wenn die Band zum Geisterstundenbeginn einfach so ihre Arbeit eingestellt hätte, ähem ... Die Laune bei allen Beteiligten ist jedenfalls prima und die Quote an richtig starken Bands an diesem Abend mit zwei von dreien auch nicht zu verachten. Man sieht sich! Setlist Carpe Noctem: Opener (mit Samplerintro - AT, UA) Blick über die Klippen Mephisto Dunkle Gewissheit Anmut im Chaos Toxicity Abseits der Wege (UA) Gravely To Forget 2.1 BACH An Untold Story (UA mit Saxophon) Requiem Afterwrath -- Wintertag Intermezzo Fate Roland Ludwig |
|
|
|