Musik an sich


Reviews
Orff, C. (Immerseel, J. v.)

Carmina Burana


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Ensemble

VÖ: 07.11.2014

Zig-Zag-Territoires / Note 1 CD (AD DDD live 2014) / Best. Nr. ZZT353

Gesamtspielzeit: 63:40



CARMINA MODERNA

Carl Orffs Universalhit Carmina Burana aus dem Jahr 1937 auf historischen Instrumenten!? Was sich zunächst skurril, ja schrullig anhört, erweist sich als echte Pioniertat. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass sich Jos van Immerseel und das nach ihm benannte Orchester Anima Eterna Brugge ins 20. Jahrhundert vorwagen, um Altbekanntem neue Klangwirkungen zu entlocken. Doch was bei Orchestermalern wie Ravel, Debussy oder Rimsky-Korsakoff sofort einleuchtet, scheint beim "neoprimitiven" Orff vergebliche Liebesmüh'. Bis man hört, was Darmsaiten, zurückhaltende Streicher und eine Feinabstimmung von Holzbläsern und Schlagzeug an neuen Farben aus einem scheinbar totgespielten Stück wie den Carmina Burana herausholen. Die Interpreten historisieren die Musik nicht, sondern erweisen Orffs Originalität und die Modernität seiner Musik: Carmina Moderna.

Auf den üblichen Breitwandsound, der dem monumentalen Eingangschor immer noch was draufsetzt und durch die übrigen Szenen, vor allem die rustikal-burlesken, mit routinierter Verve hindurcheilt, muss man allerdings verzichten. Auch der Chor klingt deutlich kammermusikalischer. Diese Entschlackung befreit die Carmina Burana von pseudoteutonischem Gedöns und vordergündiger Mittelalter-Soundtrack-Ästhetik. Immerseel entdeckt in Orff den raffinierten Orchestrator, der sich nicht nur auf mitreißende Ostinati und eingängige, ja ergreifende Melodien verstand, sondern auch neue und ungewöhnliche Klangmischungen ersann. Was sonst meist wuchtig und flächig klingt, entpuppt sich hier als ein stetes Wechselspiel von Bläser- und Schlagzeugfarben; die oft domininanten Streicher treten eher in den Hintergrund. Wiederholungen sind auch nicht einfach Wiederholungen, sondern Varianten; einige Chorteile wie das kurze Si puer cum puellula bekommen dadurch eine geradezu madrigaleske Wirkung.
Immerseel schärft die dynamischen Extreme und die Tempi-Relationen. Gerade im ersten Teil klingt manches langsamer, fast bedächtig; selten durften Primo vere und Uf dem Anger eine so bukolische Wirkung entfalten (die Einspielung dauert insgesamt 6-7 Minuten länger als die legendären Einspielungen von Eugen Jochum oder Herbert Kegel).
Immerseel legt wert auf eine klare, bajuwarisch angeraute Deklamation. Dass seine Kräfte mit der Interpretation Alter Musik Erfahrung haben, kommt der Einspielung zu Gute; das Olim lacus colueram mit seinem knorzenden Kontrafagott klang selten bildhafter, tragikomischer und, wenn man so will, "mittelalterlicher". Yves Salens hat einen äußerst wandlungsfähigen Tenor. Mit seiner "gestützten Mittelstimme" kann er die geforderten hohen Registerlagen des "sterbenden Schwans" mühelos erreichen. Ihm gegenüber agiert der Bariton Thomas Bauer mit den erforderlichen elegant-rustikalen Farben. Bruchlos gelingen ihm die anspruchsvollen Wechsel zwischen Altus-Höhe und baritonalen Tiefen im Dies, nox et omina. Strahlend bis in die höchsten Höhen singt Yeree Suh das In trutina und Dulcissime (wenngleich sie die Engelsstimme von Gundula Janowitz (Jochum) nicht vergessen machen kann).
Das Collegium Vocale Gent und der Kinderchor Cantate Dominum erweisen sich mit ihrer klaren Diktion ebenfalls als ideale Besetzung. Alles in allem ein großer Wurf.



Georg Henkel



Besetzung

Yeree Suh: Sopran
Yves Saelens: Tenor
Thomas Bauer: Bariton

Collegium Vocale Gent
Cantate Dominio

Anima Aeterna Brugge

Jos van Immerseel: Leitung




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