Motetten aus dem Cambrai-Manuskript A 410 (Schmelzer, B.)
Motetten aus dem Cambrai-Manuskript A 410 (Villard de Honnecourt Vol. 3)
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Info |
Musikrichtung:
Mittelalter Ensemble
VÖ: 07.11.2014
Glossa / Note 1 CD DDD (AD 2010) / Best. Nr. GCD P32109
Gesamtspielzeit: 47:09
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MITTELATERLICHE MUSIKMASCHINEN
Bei den Aufnahmen von Graindelavoix sind die Begleittexte von Ensembleleiter Björn Schmelzer mindestens so faszinierend wie die Musik, die da eingespielt wurde. Dem offenen Geist Schmelzers, der gegen starre, meist aus dem 19. Jahrhunderst stammende Klischeevorstellungen über mittelalterliche Musik anschreibt, entsprechen die experimentellen, oft gewagten Interpretationen von Graindelavoix.
Das belgische Ensemble ist mit ausgebildeten und Laien-Sängern besetz und für seinen exotisch timbrierten Klang bekannt. Mit der jüngsten Produktion schließen die Musiker ihr Projekt zum mittelalterlichen Skizzenbuch des Villard de Honnecourt ab. Dieser bereiste im 13. Jahrhundert die großen Kathedralbaustellen und versammelte seine zeichnerischen Notizen zu handwerklichen, künstlerischen und ästhetischen Aspekten der aufblühenden gotischen Baukunst in einer Handschrift. Ausgehend von dieser Dokumentation hat Graindelavoix eine Trilogie zur religiösen, sozialen und poetischen Musik aufgenommen, die das ein- und mehrstimmige Schaffen bekannter und anonymer Meister erkundet.
Der dritte Teil ist der Motette gewidmet, dieser mehrstimmigen- und mehrtextigen Konstruktion aus den Komponistenwerkstätten des hohen Mittelalters; die Stücke gingen meist durch viele Hände und Überarbeitungsstufen und wurden in verschiedenen Manuskripten in Fassungen unterschiedlicher Komplexität überliefert. In diesem Fall beschränkte man sich bei den eingespielten Stücken auf frühe, eher einfache Versionen aus dem sogenannten Manuskript Cambrai A 410.
Schmelzer eröffnet einen neuen und tiefen Blick auf diese "Musikmaschinen", die verschiedene selbständige Teile zu neuen Gebilden zusammensetzten, um die Klangkraft, den Ausdruck und die Affekte zu verstärken oder die Aussagekraft durch gegenseitige Kommentare zweier gleichzeitig zu singender Texte zu steigern. In ihrem Konstruktivismus ähneln sie den gotischen Kathedralen. Das Bauhütten-Prinzip wird sozusagen auf die Kompostionskunst übertragen. Verschiedene bestehende Bauteile oder neu entwickelte Formen werden verbunden. Schmelzer zeigt, dass die Kathedralen ihre Gestalt nicht zuerst einer theologischen Theorie, sondern einer praktischen und empirischen Handwerkskunst verdanken, die oft nur mündlich überliefert wurde und ihre eigenen Geheimnisse hatte. Vergleichbar sei im hohen Mittelalter auch komponiert worden: nicht spekulativ-gelehrt, sondern klangbezogen, handwerklich, kombinatorisch. Die Teile greifen ineinander wie die Zahräder einer Uhr oder die Pfeiler, Bögen, Schlusssteine eine Gebäudes.
Interpretatorisch ist die Aufnahme wie immer bei Graindelavoix eine Entdeckungsreise durch eine (fiktive?) Welt verschiedener Stimm- und Klangfarben, die archaisierend und modern zugleich wirken. Das musikalische Mittelalter erscheint als großer Schmelztiegel, in dem sich Orient und Okzident, Nord und Süd verbinden. Ein Reiz liegt darin, dass die unterschiedliche Färbung verschiedener vokaler Linien einen geradezu dramatischen Effekt hat; zwei oder drei gleichzeitig gesungene Texte wirken da wie die Vorahnung eines Opernensembles. Durch einen sukzessiven Einsatz der Stimmen - erst wird eine Stimme gesungen, dann folgt bei der Wiederholung die nächte - kann man die Bauteile und ihre Kombination zu einer "Maschine" studieren und zugleich die verschiedenen Varianten genießen. Rein instrumentale Darbietungen ausgewählter Stücke lockern die vokalen Beiträge auf. Fiedel, Guittern und Laute setzen dabei die Akzente. Die weite Akustik des Aufnahmeorts sorgt für einen präsenten Klang und eine angemessen räumliche Atmosphäre.
Georg Henkel
Trackliste |
1 | Anonymous Aucuns vont souvent / Amor qui cor vulnerat / KYRIE ELEISON | 4:19 |
2 |
Gobin de Rains (instr.) Pour le tens qui verdoie | 2:41 |
3 |
Anonymous J’ai mis toute ma pensee lonc tens / Je n’en puis mais / PUERORUM | 2:12 |
4 |
Anonymous Par une matinee / Mellis stilla / DOMINO | 3:08 |
5 |
Eustache le Peintre de Rains (instr.) Nient plus que droiz | 3:30 |
6 |
Anonymous O virgo pia / Lis ne glay / AMAT | 1:50 |
7 |
Anonymous Dieus ou porrai je trouver merci / Che sont amouretes / OMNES | 2:18 |
8 |
Anonymous Descendendo Dominus / Ascendendo Dominus / DOMINO | 2:42 |
9 |
Anonymous O Maria virgo Davitica / O Maria maris stella / VERITATEM | 4:39 |
10 |
Anonymous (instr.) J’ai mis toute ma pensee lonc tens / Je n’en puis mais / PUERORUM | 3:01 |
11 |
Anonymous Ave lux luminum / Salve virgo rubens rosa / NEUMA | 6:17 |
12 |
Eustache le Peintre de Rains (instr.) Cil qui chantent de fleur | 3:06 |
13 |
Anonymous Plus bele que flor / Quant revient et fuelle et flor / L’autrier joer m’en alai / FLOS FILIUS EIUS | 4:35 |
14 |
Anonymous Chorus innocentium / In Bethleem / IN BETHLEEM | 2:51 |
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Besetzung |
Graindelavoix: Olalla Alemán, Silvie Moors, Patrizia Hardt, Eurudike De Beul, Marius Peterson, Paul De Troyer, Lieven Gouwy, Yves Van Handenhove, Björn Schmelzer, Thomas Vanlede, Tomàs Maxé: Gesang
Thomas Baeté: Fiedel
Jan Van Outryve: Guittern
Floris De Rycker: Laute
Björn Schmelzer, Gesang und Leitung
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