Musik an sich


Reviews
Ligeti, G. (Hell)

Etüden Buch 1-3


Info
Musikrichtung: Neue Musik Klavier

VÖ: 21.09.2012

(Wergo / Note 1 / CD / DDD / 2011 / Best. Nr. WER 67632)

Gesamtspielzeit: 56:44



ELASTISCH

Die Klavieretüden György Ligetis können einen Pianisten und sein Publikum in einen wahren Höhenrausch versetzen: Höhen der Verzauberung und des Staunens angesichts der fast schon surrealen Effekte und übermenschlich anmutenden Fingerfertigkeit, aber auch – notwendig bei derart anspruchsvoller Literatur – Höhen, wo, um im alpinen Bild zu bleiben, die Grate sehr schmal werden und jederzeit die Gefahr eines technischen Absturzes droht.

Ligetis Spiel mit mehreren Geschwindigkeiten, mit Harmonie-, Zeit- und Rhythmusschichten, aus denen sich illusionistische Patterns ergeben, ist aber nicht nur eine technische Übung, sondern auch musikalische Poesie und löst beim Hören spontan Assoziationen aus, sei es, dass man an überdrehte Maschinen, wild wuchernde Urwaldpflanzen, psychedelische Muster, rotierende Fraktale oder funkelnde Kristallhöhlen denkt. Und ohne expressionistisch zu sein, ist diese Musik doch zugleich ausdrucksvoll. Neben Abstraktem und Hochkomplexen steht auch überraschend „Einfaches“, auf seine Essenz Reduziertes – wie die Stücke im 3. Band. Oder es gibt betörend Sinnliches, wie einige der langsameren, „impressionistischen“ Etüden in Band 1 und 2.

Nach den bemerkenswerten Einspielungen von Pierre Laurent Aimard und Erika Haase legt nun Thomas Hell eine weitere Annäherung vor, die dieses Spätwerk Ligetis um einige bemerkenswerte Facetten bereichert. Hell wählt vor allen bei den sehr schnellen Stücken des 1. und 2. Bandes im Ganzen etwas langsamere Tempi. Damit mag er etwas unter Ligetis halsbrecherischen Forderungen bleiben, doch sein ruhigerer Angang ist keineswegs der spannungsärmere, wirkt auch nicht unbedingt langsamer. Das Tempo alleine ist es also nicht. Vielmehr gewinnt die Musik durch diese Zurücknahme eine innere Weiträumigkeit, die bei Aimard und Haase so nicht zu hören sind. Bislang ungehörte Details erreichen das Ohr des Hörers. Hells Version der Etüden ist nicht mehr in erster Linie an den technisch-manuellen Herausforderungen interessiert. Die Interpretation ist diesbezüglich elastischer geworden und fragt nach dem, was sich jenseits des Presto furioso noch in der Musik entdecken lässt.
Hells Einspielung wirkt wunderbar erfüllt; sie besticht durch eine Poesie der Genauigkeit, die aber anders als bei der ebenfalls langsamer aufspielenden Idil Biret nicht zur Entzauberung führt. Eher ist es umgekehrt: Hell bietet viele neue Farbwerte und Nuancen, die das Relief der Musik noch reicher erscheinen lassen. Sein Ligeti klingt z. B. in Désordre nicht so wirbelwindig wie bei Haase, die Musik hebt auch nicht so ab; dafür scheint hier und andernorts hörbarer als bei den bisherigen Interpretationen jene Tradition auf, in der sich der Komponist verwurzelt sah: Désodre wirkt wie der späte Nachklang eines Beethoven-Sonatenfinales. Beim kanonischen „Wettlauf“ in À bout de souffle grüßen Bachs Kanons von Ferne. In Cordes à vides schwebt die Debussy-artige Musik wunderbar ruhig wie ein Calder-Mobile im Raum. Der Lizstsche Furor von Columna infinita verwandelt sich in eine rollende Wellenbewegung, die an einen Tsunami oder gar Vulkanausbruch denken lässt.

Hell ist eine ausgesprochen prägnante und bildmächtige Einspielung gelungen, die auch im Klangbild perfekt eingefangen wurde. Dazu kommt ein vorzüglicher Begleittext – sehr empfehlenswert.



Georg Henkel



Besetzung

Thomas Hell: Klavier


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>