Purcell, H. (Currentzis)
Dido & Aeneas
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Info |
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 01.11.2008
(Alpha / Note 1 / DDD 2007 / Best. Nr. Alpha 140)
Gesamtspielzeit: 63:45
Internet:
Teodor Currentzis
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SIBIRISCHE DIDO
Bereits die ersten Takte dieser Neueinspielung von Henry Purcells einziger durchkomponierter Oper Dido & Aeneas lassen aufhorchen. Hier wird Neues probiert. Agogische Rückungen und eine bauchige Phrasierung führen im einleitenden Teil auf schwankenden Boden. Die übliche Gravität, die der Eröffnung einer Ouvertüre im französischen Stil eigentlich ziemt, will sich nicht recht einstellen. Die Musik scheint sich in Gärung zu befinden. Eine Vorahnung der späteren Katastrophe? Das wäre eine ausgesprochen romantische Vorstellung!
Die historischen Instrumente verstärken mit ihrer kräftigen obertönigen Farbigkeit diesen Eindruck sogar noch. In schärfstem Kontrast zum Beginn setzt uhrwerkartig präzise das Fugato ein, dessen unbarmherzig pochende Basslinie gleich durch zwei Kontrabässe verstärkt wird. Zu Purcells Zeiten war ein englisches Orchester allerdings französischen Vorbildern nachempfunden. Kontrabässe kamen nicht zum Einsatz. Stattdessen bevorzugte man basses de violon, „tiefergelegte“ Celli. Um die vielbeschworene, oft missverständliche historische Authentizität geht es dem Leiter der Einspielung, dem 1972 in Athen geborenen Teodor Currentzis, offenbar weder hier noch anderswo. Er nutzt die barocken Klangerzeuger eigenwillig, nicht nur was die Orchestrierung angeht. Die Chöre skandieren entweder Orff-artig starr oder verteilen verschwenderisch Portamenti und Schweller auf beinahe jede Note, ohne dass das immer durch den Kontext motiviert wirkt. Die Lust an der artikulatorischen und dynamischen Differenzierung wird auf die Spitze getrieben und überschreitet die Grenzen zu einem Manierismus, der sich rasch abnutzt. Was alles möglich ist! Muss es darum auch gemacht werden?
Die (klang)technische Perfektion und künstlerische Integrität der Interpretation machen ein Urteil nicht einfach. Irgendwie fügt sich alles, wirkt aus einem Guss. Man lauscht gebannt und immer wieder staunend über diese Quadratur des Kreises. Denn es scheint, als hätten Mengelberg, Toscanini und Harnoncourt gemeinsam dirigiert. Die lyrischen Schwelgereien des späten 19. Jahrhundert treffen auf den postmodernen Historismus. Barocke Effekte werden mit unbarocken(?) Mitteln produziert.
Ich möchte auf diese Aufnahme gerade darum nicht verzichten. Vielleicht konnte sie nur fern von den Wegen des HIP-Mainstream entstehen: In Nowosibirsk, mit einer bis auf die Hauptrollen rein russischen Besetzung. Die ist durchweg exzellent, der männliche Sopran von Oleg Ryabets in der Rolle der Oberhexe sei nur stellvertretend für die kleineren Rollen genannt. Großartig macht auch der Chor seine nicht einfache Sache. Wie das Orchester besticht er durch Fülle, Homogenität und Wohlklang. Mühelos gelingt beiden Parteien die Verbindung von derber Volksmusik (z. B. in den Tänzen, großes Lob an die Jamsession der Solo-Violinen!) und diskreter höfischer Klangkultur.
Bleibt die Hauptrolle: Dido. Deren Auftritte eröffnen und beschließen das einstündige Werk. Die Zuspitzung und Verfeinerung führen vor allem bei dieser Partie zu außerordentlichen Ergebnissen. Simone Kermes hat hier ihre Rolle gefunden. Wie sie gleich den eröffnenden Monolog in himmlischer Langsamkeit und größter Nonchalance darbietet, mit so noch nicht gehörten, aber immer überzeugenden Verzierungen und feinst gesponnener Silberstimme, ist eine Klasse für sich. Entsprechend ingeniös gelingt ihr auch das erschütternde Schluss-Lamento, einer der Höhepunkte abendländischer Musik überhaupt. Hier stimmt dann auch der finale Einsatz des Chores, dessen Trauer unter der ruhigen Pianissimo-Oberfläche wunderschön abgründig klingt.
Eine ambivalente, herausfordernde, immer aber spannende Aufführung, um die man schwerlich herumkommt. Vor allem wegen der Leistung von Simone Kermes.
Georg Henkel
Besetzung |
Simone Kermes: Dido
Deborah York: Belinda
Dimitris Tiliakos: Aeneas
Oleg Ryabets: Oberhexe
u. a.
The New Siberian Singers
MusicaAeterna
Teodor Currentzis: Leitung
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