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Reviews
Ligeti, G. (Artemis Quartett)

Streichquartette 1 & 2


Info
Musikrichtung: Neue Musik Streichquartett

VÖ: 14.10.2005

Virgin / EMI
CD (AD DDD 1999) / Best. Nr. 0946 336934 2 5


Gesamtspielzeit: 42:48



GENIAL ERUPTIV

Dass Virgin Classics zum Einstand des Artemis Quartetts auch gleich dessen Aufnahme der beiden Streichquartette von György Ligeti übernommen hat, verdient ein Extra-Lob. Die 2000 bei Ars Musici veröffentliche WDR-Produktion gehört zu jenen seltenen Fällen, die weder musikalisch, technisch noch interpretatorisch Staub ansetzten – eine Sternstunde der Kammermusik.

Bei aller Gegensätzlichkeit sind Ligetis Kompositionen Meisterwerke ihrer Gattung. Quartett Nr. 1 entstand 1953/54 noch im stalinistischen Ungarn, in den finstersten Zeiten Schdanowscher (Un)Kulturpolitik: ein Werk für die Schublade, mit dem sich der Komponist die ihm damals zugänglichen neutönerischen Strömungen des 20. Jahrhundert – Bela Bartók, Igor Stravinsky, Alban Berg – produktiv angeeignet hat.
Bereits der halluzinatorische Beginn dieser Métamorphoses nocturnes erzeugt mit seinen verqueren chromatischen Skalengängen das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren: der Eintritt in eine musikalische (Alb)Traumwelt voller seltsamer Episoden. Das „Thema“ erscheint in immer neuer Form: mal bizarr verästelt, dann wieder ironisch gebrochen als Walzer, in irrwitziger Motorik geradezu hingefetzt, schließlich im freien Fall senza misura gespielt, um zuletzt depressiv ins Nichts zu verstummen.
Das alles ist konventionell in dem Sinne, dass hier klar identifizierbares melodisch-harmonisches Material verarbeitet wird. Selbst die freieste, dissonant wuchernde Chromatik scheint noch im Boden der Tonalität zu wurzeln.
Ganz anders das 2. Quartett. Im wahrsten Sinne ein Quantensprung, so als habe Ligeti seinen Erstling in einen atomgetriebenen Hochofen gesteckt, um aus den verflüssigten Klängen neue, zuvor für unmöglich gehaltene Legierungen zu gewinnen.
Satzbezeichnungen wie Allegro nervoso, Come un meccanismo di precisione oder Presto furioso, brutale, tumultoso zeigen allerdings, das der Komponist seine Sprache keinesfalls auf Kosten der musikalischen Imaginationsfähigkeit gewandelt hat. Die Musik ist gesättigt mit Assoziationen, bildkräftig und synästhetisch: Da gibt es exotisch schillernde Klangräume, glatte und körnige Texturen, rostiges Eisen und schwarzen Basalt. Siedend Heißes mischt sich mit höllisch Kaltem, uhrwerkartiges Ticken, mechanisches Rattern und geisterhaftes Klopfen steigert sich bis zum Kollaps, eruptive Ausbrüche drohen die Instrumente zu zerreißen. Und mittendrin, ganz unerwartet, Bruchstücke, die der Spätromantik abgelauscht scheinen.

Das Artemis Quartett agiert in beiden Fällen phänomenal: Nicht allein die technische Souveränität vor allem bei dem hochschwierigen 2. Werk ist überwältigend. Auch die Stimmigkeit der Interpretation lässt nichts zu wünschen übrig. Das Absurde und das Übergeschnappte, die (Schein)Idylle und der brutale Schock springen den Hörer geradezu an. Und wie es den Artemis-Leuten gelingt, ihre Instrumente wo nötig nach allem möglichen, nur nicht nach vier Streichern klingen zu lassen, macht einen immer wieder staunen. Da hört man Holzbläser, Schlagzeuge, Maschinen oder elektronische Klänge. Genau so muss diese Musik gespielt werden!



Georg Henkel



Trackliste
101-12 Streichquartett Nr. 122:00
213 -17 Streichquartett Nr. 220:48
3
Besetzung

Natalie Prischepenko – Heime Müller (Violinen)
Volker Jacobsen (Viola)
Eckhart Runge (Cello)



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